K
hier spricht, wird in eine Vogelschar verwandelt. Da niemand übrig blieb, die Masken aufzusetzen, verwandeln sie einander, nur der Letzte stülpt sich allein den Federkopf über mit dem resignierten Blick des Schlussmanns eines Massenselbstmords. Die Bühne ist nun voller Vögel; dieselbe Musik, mit der das Trauerspiel begann, setzt im Hintergrund erneut ein und wird lauter und lauter, bis der Vogelgesang weithin über den Rasen schallt. Sophie sollte jetzt noch einmal den Rauchtrick wiederholen, damit all die neu geschaffenen Vögel durch Wolken schweben können, doch ist sie nirgendwo zu sehen.
»Wo ist die vermaledeite Göre?«, bellt Karrefax. Mit Adlerblick sucht er einen Moment lang den Rasen ab, dann dröhnt er: »Egal: Alle Mann vor den Vorhang!«
Die maskierten Kinder können ihn kaum sehen, weshalb sie weiter umherflattern und sich gegenseitig anrempeln. Zwei fallen hin. Karrefax tritt auf die Bühne und scheucht sie in Reih und Glied, steckt den Kopf hinters Laken, und abrupt verstummt die Musik. Einen Augenblick lang herrscht Stille, dann bricht das Publikum in lauten Applaus aus.
»Danke! Danke!«, ruft Karrefax. »Tee, Kaffee und leichte Erfrischungen auf dem Rasen. Und falls …«
Doch seine Worte gehen unter in der allgemeinen Unruhe unter den Gästen, die sich von den Plätzen erheben, ihre Gliedmaßen strecken, Röcke und Westen glatt streichen. Eltern gehen zum Laken und zu ihren Kindern hinüber. Die Lautstärke steigt noch, als das Publikum versucht, sich im Lob für die Theateraufführung zu überbieten, für Mrs Karrefax’ Kostüme, Miss Hubbard, Serge, den Chor, die Sandwichs von Maureen und Frieda, für das Grammophon, das solch angenehme Atmosphäre schuf, und für das Wetter, das sich gehalten hat. Karrefax streift durch die Menge:
»Die Krönungsszene? Ich dachte, dass wir gerade in diesem Jahr… Wie? Die Krone war für meinen Kopf gedacht… Nein, eigentlich ganz lustig, Ehrengast und so… Völlig sicher: Gemisch aus Wasser und Glyzerin; sie sollte auch noch Wolken machen, aber ich glaube nicht, dass wir den Schwefelgestank noch einmal ertragen hätten …«
Die Schatten werden länger, Kinder werden müde. Sie zupfen ihre Eltern an den Ärmeln, sitzen unterm Tapeziertisch und pflücken Gurkenscheiben aus belegten Broten oder schürfen in Tortenruinen nach Schokolade. Cupido/Hermes döst in einem Sessel. Sophie bleibt so unauffindbar wie Persephone. Nach und nach verkrümeln sich die Gäste, ihre Schritte verklingen auf dem Kiesweg. Krüge, Tische und Stühle werden wieder ins Haus gebracht, die Requisiten wandern zurück in die Klassenzimmer. Nur flach getretenes Gras, einige verlorene Federn und zerdrückte Blumen, Sophies Kiste mit Chemikalien sowie das straff gespannte Laken zeugen noch von dem, was hier auf dem Rasen geschah, als Serge nach Einbruch der Dunkelheit kommt, um seine Vogelmaske zu holen.
Der Wind hat sich inzwischen gelegt; Wolken schmiegen sich fast bis zur Erde hinab, wärmen die Nacht. Es ist still: Die einzigen Geräusche, die Serge hört, sind das träge Plätschern des Flusses und eine Art Rascheln, von dem er
anfangs glaubt, es komme von einem Dachs oder einem Igel im Ufergebüsch. Ein rhythmisches Schaben, ein reibendes Scheuern, überlagert von einem helleren Laut, einem Quieken, fast wie ein ungeöltes Tor, das wiederholt geöffnet und geschlossen wird. Als Serge über den Rasen geht, merkt er, dass das Geräusch nicht aus dem Unterholz, sondern eher aus der Nähe kommt. Er schaut sich um; zwar erhellt kein Mond den Rasen, doch verbreitet eine Lampe, die irgendwer hinter dem Laken vergaß, ein sanftes Glimmen. Fast hat er das Laken erreicht, als er sieht, was das Geräusch verursacht – vielmehr kann er nur dessen Schatten sehen, der von der Lampe auf der anderen Seite aufs Laken geworfen wird und deshalb von dieser Seite zu sehen ist, ähnlich einem Film, der bloß Silhouetten zeigt. Es ist ein bewegliches Ding aus gelenkigen Teilen. Eines der Teile steht horizontal wie ein flacher Tisch auf vier Stangenbeinen, das andere ist vertikal, mit der Unterseite des rückwärtigen Tischendes zusammengefügt, doch darüber aufragend, mit zuckendem Grat, da der ganze Apparat vor- und zurückruckelt. Das Ding pulsiert wie eine Insektenlunge, und bei jedem Pulsschlag, jedem Atemstoß ist das Rascheln, Scheuern und Schaben zu hören, mit jedem Stoß quiekt der horizontale, untere Teil, während der vertikale Teil anfängt, ein tiefes Schnauben von sich zu
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