K
aus leicht abgedunkeltem Glas zieren – Otter, Aale,
Hechte, Wasserratten und Kröten –, kommt ein Deutscher auf sie zu, stellt sich als Herr Landmesser vor und fragt, was sie denn »hierherführt«.
»Es geht um den Jungen«, sagt Clair. » Das Kind . Verdauungsprobleme. Ich? Ich bin kerngesund.«
»Sie sind ein glücklicher Mensch, wenn Sie das von sich behaupten können«, erwidert Herr Landmesser mit einem tiefen, sarkastischen Lachen. »Oder nur ahnungslos glücklich. Zu welchem Arzt gehen Sie?«
»Dr. Filip«, antwortet Serge. »Den ersten Termin habe ich morgen früh.«
»Also Filip, ist auch mein Arzt. Gicht, in meinem Fall.« Herr Landmesser zeigt auf seinen Fuß. »Ist für Filip alles eins: immer die Moral.«
Serge will ihn fragen, was er damit meint, wird aber von einer recht großen Frau mittleren Alters unterbrochen, die sich zu ihrer Gruppe gesellt.
»So jung!«, ruft sie mit schroffer Stimme und schaut dabei Serge an. »Ich habe eine Nichte in deinem Alter. Du musst sie unbedingt kennenlernen, wenn du mal nach Rotterdam kommst. Ich selbst hab’s mit dem Herzen. Wie lange bleibst du?«
»Drei Wochen, glaub ich.« Bestätigung suchend blickt Serge zu Clair hinüber, der aber ist wegen Landmessers kleinem Scherz zu beleidigt oder zu besorgt, um am Gespräch teilzunehmen.
»Sie haben was verpasst – vor fünf Tagen«, fährt die Holländerin fort, »ein Schauspiel. Die Leute aus der Stadt, die Ärzte und Krankenschwestern, alle als Sonne verkleidet, als Sonne, Wolken und Wetter. So lustig. Dir und meiner Nichte, euch hätte das gefallen. Da waren wir allerdings noch mehr hier im Haus. Paní !«
Das letzte Wort ruft sie einem Kellner zu, der gerade mit einer Kaffeekanne vorbeieilt. Er hört sie nicht, also folgt sie
ihm. Herr Landmesser verlässt sie ebenfalls und geht an die Bücherregale. Erschöpft bleiben Clair und Serge noch eine Weile still sitzen, dann ziehen sie sich auf ihre Zimmer zurück. Serge schläft ein zum Klang von fließendem Wasser, einem Fluss unweit vom Hotel, den seine Phantasie durch sein Inneres fließen lässt, verwandelt zu dunklem Strom mit langsam darin sich bewegenden Kreaturen.
II
Er wacht früh auf, einige Zeit vor Clair, nimmt ein leichtes Frühstück zu sich und geht dann im Park auf den Wegen spazieren, die alle kleinen Kuppelgebäude miteinander verbinden. Auf einem Podium neben einem dieser Gebäude spielt ein Orchester. Erst im Näherkommen bemerkt Serge, dass die Musiker in Herzform angeordnet sitzen und dass diese Mausoleen gar keine Mausoleen sind; es sind Pavillons mit Springbrunnen. Man schlendert von einem zum anderen, hält das Glas unter den Strahl, bis es voll ist, und nippt dann im Weitergehen gemächlich am Wasser. Eine Gruppe Kaftan tragender Juden mit Bärten und Schläfenlocken unterhält sich beim Trinken auf Polnisch und Jiddisch; zwei Russen reden laut miteinander, gurgeln und spucken zwischen den Sätzen. Ein französisches Pärchen diskutiert über die Musik:
»Mais c’est Debussy, n’est-ce pas?«
»Non, non, c’est Brahms …«
Serge hat kein Glas. Mit hohlen Händen schöpft er aus dem Springbrunnen. Das Wasser ist nicht besonders kalt und fühlt sich seltsamerweise nicht einmal sonderlich nass an. Irgendwie kommt es ihm rußig vor. Er hebt die Hände vor die Augen, um es sich genauer anzusehen. Es ist wolkig, etwas trübe, mit Bläschen darin. Er nimmt einen Schluck. Es schmeckt sogar wolkig
und auch ein wenig bitter. Eine Krankenschwester kommt auf ihn zu und sagt etwas, was er nicht versteht. Er hebt die Achseln und schaut sie nur groß an; sie bewegt eine Hand, als trinke sie aus einem Glas, und zeigt auf einen Kiosk, der Gläser derselben, leicht opaken Beschaffenheit wie das Glas der Tiervitrinen im Hotel verkauft. Daneben steht ein Schilderpfosten mit vier Pfeilen, auf denen in Großbuchstaben steht: MIR , MAXBRENNER , ZAMACEK und LETNA . Auf keinem steht GRAND HOTEL, doch findet er den Weg zurück, indem er derselben Hauptstraße folgt, auf der er gestern mit den Gepäckträgern angekommen ist, vorbei an Tand verkaufenden Kiosken und den Drogerien mit ihren Waagen und Schlangen.
Auf der Terrasse trifft er auf Clair, der beunruhigt auf ihn wartet.
»Beeil dich! Dein Termin ist in fünf Minuten.«
»Ich bin so weit.«
Sie gehen nicht zu den Springbrunnen, sondern in entgegengesetzter Richtung, vorbei an der Statue eines gekrönten Reiters und einem großen Gebäude, über dessen Stufen scharenweise Krankenschwestern
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