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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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Schaltkasten; kurze Klammern umspannen ihn wie Zeckenschenkel, während ein langer, tentakelhafter Auswuchs aus dem Unterbauch Strom in die Erde schickt. Das Land ist flach. In ein, zwei Kilometern Entfernung scheint ein Schlot unmittelbar daraus aufzuragen. Näher am Zug ächzt ein Bagger, der mit aufgestelzter Schaufel eine Last transportiert, die er dann auf einen wachsenden Haufen fallen lässt. Andere, zu voller Größe angewachsene Haufen von dem Zeug säumen das Bahngleis bereits auf mehreren Hundert Metern Länge und sehen vor blauem Himmel und goldenem Laub seltsam schwarz aus.
    »Das ist Cystein«, erklärt Clair, als er bemerkt, dass Serge sich die Haufen ansieht.
    »Sixtin? Wie in Sixtinische Kapelle?«
    »Nein, Cystein, eine Chemikalie, sie lässt die Haufen schwarz aussehen. Cystein und Schwefel, Chlorid, Natrium und noch so allerhand. Das wird dich heilen.«
    Aus den Papieren, die neben ihm auf der Bank liegen, wirft er Serge eine Broschüre zu. Der Zug ist fast leer; sie haben das Abteil für sich allein und konnten sich deshalb ausbreiten. Serge lässt die Broschüre auf seinen Platz fallen, hebt sie dann aber doch auf und setzt sich. Das Deckblatt zeigt eine elegante Dame mit Sonnenschirm, die über einen von griechisch-römischen Gebäuden gesäumten Boulevard flaniert, ein Glas in der Hand. Unter dem Bildrand und dank der vom Illustrator der Broschüre gewählten Perspektive leicht vorgesetzt, ist ein großes, rotes, auf einem Wasserstrahl schwebendes Herz zu sehen, während eine Putte mit einem Fuß auf dem Herzen
balanciert und über den Rand ins Hauptbild reicht, um der Dame Rosen auf den Weg zu streuen. Wieder diese Sache mit der räumlichen Tiefe, jener Technik, die Serge in den Zeichenstunden nie gelernt hat. Es ist einfach nicht richtig . Die Putte, die sich auf einer Ebene mit dem Hauptbild befindet, kann nicht zugleich mehrere Schritte davor stehen und folglich von außerhalb des Rahmens auch keine Blumen streuen – falls sie nicht unter einer Leinwand hervorsieht, auf die das Bild der flanierenden Dame projiziert wurde, und ihr die Blumen in den Weg hält, die Putte sich also einen cleveren optischen Trick zunutze macht. Über dem Sonnenschirm stehen, von schwarzen Strahlen durchschossen, die Worte »Klodĕbradys Bäder«.
    Serge blättert durch die Broschüre und betrachtet die Photographien von Herren und Damen, die, ähnlich der Dame in der Zeichnung, an Kuppelmausoleen vorbeischlendern oder vor Springbrunnen posieren, ein Glas in der Hand. Im Begleittext wird die Geschichte der Stadt geschildert, die vor allem von Eroberungen, Kriegen und Thronstreitigkeiten handelt. Bei einer dieser Streitigkeiten, über die sich der Autor des Längeren auslässt, beschuldigen die Erben eines gewissen Königs Mstislaw den Thronprätendenten Wladimir, ihren Vater vergiftet zu haben, doch stellte sich später heraus, dass der König an »verdorbenem Blut infolge schlechter Humores, schlechter Körpersäfte« gestorben war – ausreichend Anlass für den vom Vorwurf des Verbrechens befreiten Wladimir, seine Verleumder köpfen zu lassen. Dieser Mstislaw, vielleicht auch ein anderer, wird einige Absätze später wiederum erwähnt, nur werden aus den Humores nun Tumore: Jedenfalls war er es (oder sein Namensvetter), der, so die Broschüre, »auf der Suche nach einem gangbaren Weg im Wirrwarr der politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Probleme«, Klodĕbrady vor seiner Erkrankung an verdorbenem Blute zu einem Zentrum
»radikalsozialer« Ansichten machte – und damit das Fundament für die fortschrittliche Regierung jenes Mannes legte, der gut achtzig Jahre später auf der Bildfläche erschien und Stadtpatron werden sollte: Fürst Jiři. »Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts«, liest Serge laut seinem Lehrer vor, »erblühten Gesellschaft und Kultur unter Jiřis Regentschaft, und die Stadt erlebte unstreitig den Zenit ihrer Bedeutung.«
    »Dein Vater hätte gewiss darauf hingewiesen, dass es ›unstrittig‹ heißen müsste«, sagt Clair.
    Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Ein Güterzug fährt in Gegenrichtung vorbei, beladen mit demselben schwarzen Ballast, den sie zuvor schon in der Baggerschaufel gesehen hatten.
    »Das hier ist interessant«, fährt Serge fort, der, nachdem er weitere Mstislaws und Wladimirs überblättert hat, im neunzehnten Jahrhundert angekommen ist. »Durch eine Feuersbrunst wurde 1805 die ganze Stadt vernichtet. Bei ihrem Wiederaufbau haben der bayerische König und

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