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Titel: K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T McCarthy
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legt den Schalter um. Kaum erreicht der Sarg die lotrecht zum Graben angebrachte Schiene, erwachen die Vorhänge ruckelnd zum Leben; der Saum schleift über den Boden, hängt dann frei über dem Graben und schließt sich, begleitet von elektrischem Surren, sobald der Sarg zwischen ihnen hindurch ist. So jedenfalls hätte es ablaufen sollen: Tatsächlich aber verfängt sich eine Bahn am Sarg, verhakt sich und bringt den elektrischen Motor jaulend auf Hochtouren, ehe er sich schließlich aufhängt.
    »Verflixtes Ding!«, schimpft Karrefax, stellt den Motor ab, zieht am Vorhang, um den Saum freizuschütteln, und legt erneut den Schalter um. Diesmal gleitet der Sarg ungehindert durch den Vorhang, der sich dahinter schließt.

    »Sie ist fort!«, schluchzt Frieda.
    Wimmernd stimmen ihre Mädchen ein. Serge, noch immer mit einem Steifen, muss unwillkürlich lächeln: Der Sarg steht keine zwei Schritte von der Stelle, wo er vorher war. Würden die Mädchen nur etwas zur Seite treten, könnten sie ihn sehen, stumm, hölzern, unverändert. Ihm fällt auf, dass die ganze Feier amateurhafter abläuft als die Historienspiele – unechter, schlampiger. Der Vorhang ist bloß ein Vorhang und zudem schlecht vernäht. Die Hände immer noch vorm Schritt, lässt er den Blick zur Mauer der Krypta wandern. Sollte das der äußerste Rand sein, das Portal zum Jenseits, zu des Vikars Himmel? Und was wäre dann die jenseitige Wand: Hört an ihr das Jenseits auf? Der Blick schweift weiter zum Gras hinter der Krypta, feucht, drahtig, kein bisschen anders als das Gras, auf dem sie stehen – und noch weiter hinüber zu der sanft ansteigenden, mit Schafsköteln bestreuten Weide hinter dem Fluss, der Telegraphenleitung auf dem Hügel. Er stellt sich die Automobile dahinter vor, die Schiffe, die Türme, die Stationen, die Archipele …
    Die Arbeiter folgen dem Graben, um die Pumpwinde zu bedienen. Während sie den Sarg an seinen Platz in der Krypta hinaufkurbeln, spürt Serge eine Schwere im Bauch, als würde dort etwas Fremdes abgeladen. Es ist ein deutliches Gefühl, tief in den Eingeweiden und so stark, dass er eine Hand vom Schritt nimmt und sich über die Bauchmitte streicht, wie schwangere Frauen es tun. Gequält schließt er die Lider und sieht dunkle Planeten ihre Kreise in einem Meer aus Licht ziehen. Als er die Augen wieder öffnet, haben die Arbeiter mit dem Pumpen aufgehört; sie treten zurück und reiben sich die Hände. Mehrere Trauergäste schluchzen. Mr Clair weint leise vor sich hin. Serge nicht: Für ihn hat dieses schlampige, klägliche Spektakel nichts mit dem Tod zu tun, auch nichts mit Sophie. Beide, der Tod und sie, sind anderswo, fort, versandt wie ein Signal.

6
    I
    Von Portsmouth dauert die Fahrt nach Klodĕbrady dreiundzwanzig Stunden, von Versoie achtundzwanzig. Serge und Clair besteigen erst einen Zug, dann ein Schiff, dann noch einen von der Internationalen Schlafwagengesellschaft bereitgestellten Express und schließlich, nach einem Halt irgendwo bei Dresden, eine Reihe kleinerer Züge, die sie über Ländergrenzen bringen, durch Zeitzonen, Fürstentümer und halb autonome Regionen, von denen Serge noch nie gehört hat. Wenn ihm die Namen, die neben Telegraphenmasten über das Abteilfenster gleiten, die Heuhaufen und rot gedeckten Bauernhäuser, die drei Meter über der Erde zu schweben scheinen, vage vertraut vorkommen, dann liegt der Grund hierfür wohl eher in den Märchen, die Maureen ihm als kleinem Kind erzählt hat, als an irgendetwas, das er in Geographie oder Geschichte von Clair gelernt hätte. Er ist auch durch Zonen der Langeweile und Erschöpfung gereist, hat sie jedoch hinter sich gelassen und erwacht nun für den letzten Abschnitt der Fahrt. Seine Sinne sind verwirrt, aber geschärft; die Lethargie, die ihn seit Monaten wie eine Dunstglocke einhüllte, scheint sich zu lichten, nicht gänzlich, aber ein wenig: zu lichten und leichter zu werden.
    Der Zug hält an, allerdings nicht in einem Bahnhof. Sie warten nur darauf, dass ein Signal wechselt, eine Weiche umgestellt oder vom Bahndamm eine Anweisung in fremder Sprache gerufen wird. Serge steht auf, zieht die obere
Fensterhälfte nach unten, lehnt sich hinaus und schaut sich um. Der Sommer geht zu Ende: Welke Büsche und Bäume längs der Gleise verfärben sich; zwischen den Schwellen stehen Löwenzahn und Unkraut einen halben Meter hoch. Ein Steinpfosten ist mit geraden, schwarzgelben Streifen bemalt. An einem der Gleise haftet ein kleiner

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