K
sollten sich entschuldigen«, sagt Herr Landmesser zu Monsieur Bulteau.
»Das werde ich nicht«, erwidert Monsieur Bulteau.
Der Streit schwelt den ganzen Tag, und die deutsche Delegation verlangt in zunehmend aggressivem Ton eine Entschuldigung vom einsamen Franzosen, während die Ungarn, Serben und Italiener erst Partei ergreifen, um dann in kleinere Gruppen zu zerfallen, die sich wegen untergeordneter Streitigkeiten gegeneinander richten. Nur Pan Suchyx bleibt neutral, wenn auch nicht unberührt, und summt eine Melodie vor sich hin, dann eine Gegenmelodie, als hadere er mit sich und wäge das Für und Wider beider Seiten ab. Man streitet sich erneut in Dr. Filips Warteraum; die lauten Stimmen locken den Arzt aus seinem Zimmer, der allen Parteien in strengem Ton rät, sich zu mäßigen; sein weißer Kittel erinnert Serge in diesem Moment an die Toga des griechisch-römischen Richters auf dem Speisesaalfresko des Hotels.
»Dasselbe Probleme in ihren Köpfen wie in deinem Bauch«, schimpft er, als er Serges Unterleib abtastet, den Kopf gesenkt, da er sein Gehör erneut auf dessen Gedärm ausrichtet. »Blut von Europa vergiftet und kachektisch; Ptomain und Pathogene im System. Die schwarze Galle ist jetzt überall, die mela chole . Alle haben wolkigen Blick, genau wie du.«
Diskussionen, ob streitlustiger Natur oder nicht, werden seltener, da die Zahl der Hotelgäste gegen Ende August deutlich abnimmt. Jeden Tag rattern und rumpeln die kofferbeladenen Karren der Gepäckträger über die Hauptstraße vom Hotel zum Bahnhof, nie in umgekehrter Richtung. Das Orchester am Springbrunnen Mir lässt sich nur noch zweimal die Woche blicken und ist selbst dann mit weniger Musikern als zuvor besetzt; die Herzform allerdings wird beibehalten, wenn auch in reduzierter Form, und die Musik muss nun mit dem Lärm der Handwerker wetteifern, die beim Renovieren
der Mausoleen Stein und Gips mit ihren Hämmern bearbeiten. Abschnitte des Springbrunnennetzes werden ausgeschaltet, trockengelegt und repariert. Serge verbringt ganze Vormittage damit, dem Verlauf des Rohrsystems zu folgen, fasziniert von der aufgedeckten Mechanik des Ganzen, den Kreuzungen und Verbindungen dort, wo das Netz sich teilt, den kleinen elektrischen Pumpen neben den Rohren und den isolierten, durchgezogenen Kabeln. Der Blick zur Erde wird ihm zur Gewohnheit; den ganzen Tag starrt er nach unten, in welchem Stadtteil er sich auch aufhält, begutachtet die Risse, die den Boden wie Stränge durchziehen, ihre dunkle, viskose Verfärbung oder die fortgeworfenen Abrisse der Bäderkarten und medizinischen Etiketten, die festgetreten und längst so bröslig sind, dass sie alt und organisch wie die Erde selbst aussehen.
IV
Anfang September sorgt ein Neuankömmling für einen kleinen Wirbel im Strom der scheidenden Gäste. Mit großer, runder Hutschachtel, Nerzstola, aufgerolltem Sonnenschirm im selben hellen Blau wie die Hutschachtel, schwarzer Handtasche und einer Flottille kleiner Koffer und Kisten taucht sie in der Lobby des Grand Hotels auf. Während Hausdiener um sie herumscharwenzeln, steht sie gelassen da wie ein Leuchtturm im quirligen Hafen und überlässt es ihrer älteren Begleitperson, Anweisungen und Trinkgelder zu verteilen.
Serge will das Hotel in Richtung Mir verlassen und verharrt kurz, als er sie entdeckt. Sie ist in seinem Alter – wie die krummrückige Krankenschwester vielleicht ein, zwei Jahre älter – und sieht ihn fragend an, als er in der Lobby zaudert, weshalb er wiederum sie fragend anschaut, fast, als würde er
sie kennen oder sollte eine Aufgabe für sie erledigen, die ihm aber momentan entfallen ist – sodass sie nun wiederum ihn amüsiert betrachtet. Jedenfalls scheint sie die Lage schneller als er selbst zu begreifen – zu begreifen, dass es nichts zu begreifen gibt – und entlässt ihn mit einem souveränen, wenn auch manierierten Lächeln aus ihrem Blick.
Am nächsten Nachmittag trifft er sie im Museum der Stadt wieder. Das Museum befindet sich im Schloss; bis gestern Abend, als Mevr Tuithof beim Essen plötzlich davon schwärmte, hatte Serge nichts von seiner Existenz geahnt. Als er für eine halbe Krone eine Eintrittskarte kauft, kommt die alte Frau hinter dem Schalter hervor auf seine Seite des Schalterfensters und führt ihn zu einem uralten Sub-Berliner im Hauptsaal.
»Deutsch? Français?«, fragt sie und blickt lächelnd zu ihm auf.
»English«, erwidert er.
»Aha!« Sie wirkt ein wenig schockiert, hastet zurück in ihre
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