K
wie
ein unartiges Schulkind. »Mein Blut ist zu hell oder irgendwas in der Art. Was ist mit dir?«
»Das Gegenteil: zu dunkel.«
Lucia kichert: »Passt perfekt. Sollen wir uns den Saal zusammen ansehen?«
An Gobelins und Bildern vorbei gehen sie durch den großen Raum, während der Bericht des Grammophons über Kriege gegen die Türken, Ungarn und Tschechen, über Kindsmord, Rebellion und Verrat von den hohen Wänden widerhallt. Die Worte werden leiser und undeutlich, als sie den Keller betreten, in dem Bootsreste vor sich hin faulen, verkohlte Kanuskelette zwischen uralten Gräbern, deren Steinreliefs die Streitigkeiten zwischen Angreifern und ihren Opfern begleichen, indem sie allen Gesichtern dasselbe verwitterte, nichtssagende Aussehen verleihen. Als sie zurück in den Hauptsaal kommen, erzählt ihnen die Stimme, wie Mstislaw versucht hat, sich dem mörderischen Trend entgegenzustellen, indem er friedliche Strategien entwickelte und anwandte.
»Er ist der Mann mit den radikalen Ansichten«, sagt Serge. »Von ihm habe ich schon gelesen. Er hat das Fundament für die Regierung von Fürst Jiři gelegt… Hör doch …«
»… für die Regierung von Fürst Jiři«, fuhr die tiefe Stimme fort, als ergänze oder wiederhole sie Serges Satz, »der den Königshöfen Europas eine Blaupause für weltweiten Frieden unter dem Titel Die allgemein friedlichen Organisationen vorlegte.«
»So, so«, sagt Lucia amüsiert und nickt ihm mit weit aufgerissenen Augen zu. »Ich bin beeindruckt.«
Serge hebt einen Finger wie kurz zuvor die Kartenfrau; und sie hören zu, während die Stimme fortfährt: »Auch wenn sie nicht unmittelbar angenommen wurde, breitet sich Jiřis Vision doch heute unter allen Nationen aus, und friedlicher Handel hat den Krieg als Mittel des Wettbewerbs verdrängt.«
»Ist das so?«, fragt Lucia, eher an die Stimme als an Serge gewandt. »Wie nett.«
Die Platte ist zu Ende; aus dem Trichter dringt nur noch ein Knistern. Einen Moment lang meint Serge, wieder in der Mansarde in Versoie zu stehen, auf den verregneten Garten zu blicken und Geistfiguren über Planquadrate zu schieben. Die Kartenfrau trottet los, um die Platte zurückzuholen, und lächelt ihnen übertrieben deutlich zu, als sie auf dem Weg zum Ausgang an ihnen vorbeikommt. Während sie den Tonarm zurück auf die Gabel legt, lässt sie die Nadel ungeschickt aus zittriger Hand zurück auf die Platte fallen: Noch einmal stößt ein Kind oder eine Frau einen gellenden Schrei aus, der Serge und Lucia hinaus in den Hof begleitet.
Das Herz-Signet ist ins Mauerwerk des Schlosses eingelassen und schwebt über ihnen, als sie unter einem Gewölbebogen durchgehen, nur wird es diesmal nicht von Putten gehalten, sondern von Strängen, die wie fleischige Tentakel aus der Unterseite vorquellen und dem Herz ein kraken-oder quallenhaftes Aussehen verleihen. Sie verlassen den Hof in Richtung Fluss, an dem Ruderer vor einem Bootshaus noch nicht verkohlte Kanus von einem Steg ins Wasser lassen, während Badegäste in Badekostümen und mit Badekappen Freunde in Paddelbooten nass spritzen. Eine Brücke führt über den Fluss; Serge und Lucia gehen bis zur Mitte, bleiben stehen, beugen sich über das Geländer und betrachten ein großes, doppelstöckiges Vergnügungsboot, das auf die Schleusenöffnung wartet. Am Heck des Bootes steht der Name Jiři.
»Wie ist deine Schwester gestorben?«, fragt Lucia. Sie haben eine Weile nicht mehr gesprochen, sind nur spazieren gegangen und haben auf den Fluss geschaut. Mit Blick auf die unterm Schiffsrumpf vordringenden Wirbel antwortet Serge: »Sie ist ertrunken.«
Die Schleuse öffnet sich, im schäumenden Wasser steigen Blasen auf; für das Vergnügungsboot endet die Pause; für Lucia und Serge auch. Nach wenigen Schritten wird die Brücke zum Wehr. Weitere, tief gelegene Schleusentore kanalisieren und filtern das Wasser, über ihnen ragen in regelmäßigen Abständen wachturmähnliche Torhäuser auf. Dahinter reicht ein Kraftwerk vom Wehr bis zum festen Grund am anderen Ufer. Durch die vergitterten Fenster kann Serge surrende, stampfende Turbinen sehen, deren Räder und Riemen ihn an die seltsame Maschine in Dr. Filips Behandlungszimmer erinnern. Vom Gebäude geht ein elektrisches Säuseln aus, das in ein anderes, von irgendwo hoch oben kommendes Brummen übergeht, ein Brummen, das lauter und so angriffslustig wie das Summen eines bösartigen Insekts wird. Serge blickt auf und entdeckt über dem Fluss ein Flugzeug. Lucia
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