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Kabine und kommt mit einer Scheibe wieder, die sie mit zittriger Hand auf den Plattenteller legt. Leicht gebeugt führt sie den Tonarm erst seitwärts, senkt ihn dann, dreht sich zu Serge um und will etwas sagen – doch da ihr offenbar die englischen Worte fehlen, deutet sie nur auf ihre Ohren: Zuhören . Und Serge hört zu. Knisternd dringt eine tiefe Männerstimme aus dem Schalltrichter: »Unter allen Städten Mitteleuropas«, informiert sie ihn, »haben nur wenige eine Geschichte, die derart von Gewalt durchzogen ist wie die Geschichte von Klodĕbrady.« Als gälte es, das Gesagte zu bekräftigen, unterbricht ein Schrei – der eines Kindes, vielleicht auch einer Frau – den Monolog. »Hier geschah es«, fährt die tiefe, männliche Stimme fort, sobald der Schrei verklungen ist, »dass der Kindfürst von Kutna Hora auf Befehl des Hauptmannes von Olbec geköpft wurde; und hier geschah es auch, dass Vincenzo
und Rosnata, die Söhne von Mstislaw, nach dem Ableben ihres Vaters von Wladimir ermordet wurden.«
Serge nickt der alten Frau vielsagend zu. »Die Tumore-Humores-Geschichte«, sagt er.
Beflissen erwidert sie sein Lächeln und weicht dann langsam zu ihrer Kabine zurück. Die tiefe, männliche Stimme fährt fort, ihm von Kriegen und Säuberungen zu erzählen, von Seuchen und Feuersbrünsten. Serge sieht sich im Saal um. In den Vitrinen, die aus demselben trüben Glas wie die Hecht-und-Otter-Kästen im Hotel sind, liegen illuminierte Manuskripte mit Bildern von Schlachten und Hinrichtungen. An den Wänden hängen größere Bilder, die ähnliche Ereignisse darstellen. Ein Teppich etwa derselben Größe wie jener in Versoie über der Treppe zeigt eine Art Folterszene: Ein traurig dreinblickender Kerl wird von zwei Soldaten eine Leiter hinaufgetragen, die an den Rand eines riesigen Fasses führt, aus dem Dampf quillt, während jemand, offenbar ein Höfling, mit boshafter Miene auf das Fass deutet. Serge tritt näher heran, um sich den Behang genauer anzusehen. Der Höfling hat dasselbe schmale, scharf geschnittene Gesicht wie Dr. Filip. Vielleicht ist Dr. Filip nur die bislang letzte Verkörperung eines Typus, der so alt ist wie die Stadt selbst, denkt Serge – eine Gestalt, die Epoche um Epoche auftaucht, so wie sich Dr. Learmonts Gesicht in den Krankenbettnachmittagen seiner Kindheit wiederholte, allerdings in größeren Abständen, einem anderen Maßstab, der sich nicht an den Erinnerungen eines einzelnen Lebens, sondern an Jahrhunderten bemisst. Der Saum des Teppichs ist mit Insekten verziert. Als Serge sich abwendet, spürt er, wie der Schleier vor seinem Blick dichter wird und die dunkle Masse in seinem Bauch sich weiter zusammenzieht und verfestigt. Die tiefe Schallplattenstimme beschreibt die Landschaft dieser Region: »… bereits von einer extrem wichtigen Handelsroute gekreuzt, die das
Zentrum des Landes mit der Kodsko-Region und mit Schlesien verbindet … ie das Zentrum des Landes mit der Kodsko-Region und mit Schlesien verbindet … ie das Zentrum des Landes mit der Kods …«
Die Platte hängt. Serge dreht sich um und will zum Grammophon gehen, um die Nadel neu aufzusetzen, sieht aber, dass ihm jemand zuvorgekommen ist: Eine Frau, allerdings nicht die Kartenverkäuferin, hebt den Tonarm, lässt ihn ein Stück über die Platte gleiten und setzt ihn dann wieder ab, woraufhin der Monolog erneut zu hören ist: »… für den Transport der mineralreichen Erde aus der näheren Umgebung, bis heute einer der wichtigsten Bodenschätze des Landes. Zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts …«
Jetzt dreht sich die Frau um, und Serge sieht, es ist die Neue. Sie hat sich inzwischen umgezogen und trägt nun einen smaragdgrünen, geknüpften Glockenhut sowie ein meerblaues Schultertuch.
»Mein stolpernder Träger«, sagt sie. »Wie heißt du?«
Er sagt es ihr.
»Serge wie in ›Särge‹ oder wie in ›Scherge‹?«
»Genau wie ich es ausgesprochen habe«, erwidert er. »Und wie heißt du?«
»Lucia«, antwortet sie. »Das ist italienisch.«
»Du klingst gar nicht wie eine Italienerin.«
»Meine Mutter ist eine«, sagt Lucia. »Sie kommt aus Genua. Mein Vater ist Engländer. ›Serge‹ klingt französisch.«
»Ist es. Auch meine Mutter, ihre Familie.«
»Hast du Geschwister?«
»Nein. Ich hatte eine Schwester, jetzt nicht mehr. Warum bist du hier?«
»Hier? Um mir das Museum anzuschauen«, sagt sie.
»Nein, ich meine hier in Klodĕ brady.«
»Oh, Anämie«, antwortet sie und rollt mit den Augen
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