K
alles sehr amüsant. Sie und Serge folgen der Prozession der Gläubigen, die aus den Türen der Stadtkirche drängen und den Weg zum Schloss einschlagen; danach geht es erst zum Haus Letna, dann zu den Maxbrenner-Gebäuden, wobei auf den Eingangsstufen jeweils eine kleine Zeremonie stattfindet. Anschließend passiert man die zahlreichen Drogerien, die Reiterstatue von Fürst Jiři sowie die Kioske entlang der Hauptstraße, die ebenfalls ausnahmslos gesegnet werden, um schließlich über den Rasen des Springbrunnenparks, vorbei an sämtlichen Mausoleen, vor dem Haus Mir zum Stehen zu kommen. Ein Priester am Kopf der Prozession, der ein Kreuz in die Höhe hält, singt liturgische Texte; untergeordnete Priester und Messdiener murmeln ihre Zustimmung. Ihnen folgt das Orchester, das, diesmal nicht in Herzform, Melodien anstimmt, die eher nach Beerdigung klingen, abbricht, wieder einsetzt und dieselben Passagen spielt. Das Stadtvolk, dem sich Lucia und Serge angeschlossen haben, fällt in bestimmten Abständen mit kurzen Erwiderungen in seiner eigenen, nichtliturgischen Sprache ein.
»Was glaubst du, was die sagen?«, fragt Lucia und greift nach Serges Arm.
»›Oh heiliges Wasser, bring uns mehr reiche Ausländer, auf dass wir ihnen weiterhin Geld abknöpfen können‹«, erwidert Serge.
Mit schallendem Gelächter wirft Lucia den Kopf in den Nacken und schlingt beide Arme um seinen Hals. Einige Stadtleute drehen sich um und sehen sie missbilligend an. Schweigen legt sich über die Menge, als der Priester das Kreuz ins Wasser des Springbrunnens Mir tunkt; solange es untergetaucht bleibt, halten alle den Kopf gesenkt. Lang passiert nichts. Während Serge dem Priester zuschaut, muss er daran denken, was Herr Landmesser über den historischen, germanischen Ursprung der Stadtmythen erzählt hat. Und während alte, obskure Worte über die andächtig gebeugte Menge wehen, geht ihm auf, dass Herr Landmesser vermutlich recht hat – so wie ihm gleichfalls aufgeht, dass alles Wasser, das seit Anbeginn durch den Brunnen Mir floss, nicht reichen würde, ihn zu reinigen, die dunkle Galle fortzuwaschen, da das Wasser selbst dunkel ist. Gefiltert durch verkohlte Kanuwracks, durch die tumorverseuchten Knochen ermordeter Vorfahren, durch Stuhlarchive und andere Schichten morbider Masse, sprudelt es so schwarz aus der Erde, dass kein Segen es jemals aufhellen kann. Serge wendet den verschleierten Blick vom Priester ab – und sieht dabei Tania, die seinen Blick aus alten, glasigen Augen erwidert.
V
Gegen Ende September wohnen im Grand Hotel nur noch Serge und Clair, Lucia und Miss Larkham sowie ein Häuflein Vollzeitpatienten, die wissen, dass sie diesen Ort lebend nicht mehr verlassen werden. An den Masten vor dem Haus hängen keine Fahnen; auf der von Tischen geräumten Terrasse
sammeln sich Blätter. Drinnen wird der Speisesaal renoviert. Das Fresko mit dem griechisch-römischen Richter und den Athleten ist mit einem großen Tuch verhängt; der weiß livrierte Kellner an der Bar bedient zusätzlich auch die vier, fünf Tische, an denen noch Gäste sitzen. Das Orchester spielt nicht mehr am Springbrunnen Mir; wie eine horizontale Version des Freskos ist der Boden des Pavillons mit Tüchern bedeckt, da Arbeiter die Säulen und das eiserne Geländergitter streichen. Beim morgendlichen Spaziergang zum Brunnen kommt Serge sich wie ein Eindringling vor, wie jemand, der, ähnlich der Rosen streuenden Putte auf der Broschürenzeichnung, einen Weg in ein Bild gefunden hat, in das er eigentlich nicht gehört. Die Stadtleute, die sich bislang so aufmerksam gegenüber den Besuchern verhielten, so zuvorkommend, als würde ihr Leben, ihr tägliches Tun und Treiben, sich allein um sie drehen, scheinen neuerdings um ihre eigenen, obskuren Sonnen zu kreisen, Sonnen, die Serge nicht recht erkennen kann. Concierge und Koch, nun ebenso oft ohne Uniform wie mit, lassen sich selbst dann nicht in ihrem Schwatz über den Empfangstresen hinweg stören, wenn Gäste warten; auf Fluren und Straßen beanspruchen Männer mit Leitern den Vortritt, sodass sich Besucher an ihnen vorbei- und um sie herumschlängeln müssen: Dies ist jetzt ihre Stadt…
Dass es allgemein weniger formell zugeht, spürt Serge auch bei den Terminen mit Tania. Dabei hat sich nichts Offensichtliches geändert: Sie trägt immer noch denselben Kittel und knetet, klopft und sägt an denselben Stellen – aber ihre Hände bewegen sich jetzt lässiger über ihn hinweg. Jede Sitzung kommt
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