K
Vorsichtsmaßnahmen werden seitens der Bahn ergriffen, um zu verhindern, dass Züge in einer Kurve aus den Gleisen kippen? Müssen diesbezüglich besondere Vorsichtsmaßnahmen bei einspurigen Strecken getroffen werden, auf denen in beide Richtungen verkehrt wird?
Wieder hebt Serge den linken Unterarm, hält ihn zehn Zentimeter über dem Schreibtisch, Hand flach nach unten, Finger zusammengepresst und ausgestreckt. Dann knickt er die
Hand nach rechts ab, um eine Kurve zu formen, und lässt in Gedanken vom Ellbogen zu den Fingernägeln einen imaginären Zug fahren, wobei er das Gleis nach innen neigt, als die Fahrt aufnehmende Lok über die Schwelle seines Ärmelsaums rattert. Anschließend zerlegt er Zug und Gleis wieder, damit er das Blatt festhalten kann, und schreibt: »Das Gleis sollte derart geneigt sein, dass die Innenseite der Kurve tiefer liegt als die Außenseite.«
Wenn aber der Zug in umgekehrter Richtung fährt? Wieder hebt er den Unterarm, und ein zweiter Zug braust von den Fingernägeln zum Ellbogen. Allem Anschein nach sollte die Neigung gleich bleiben. »Weitere Vorsichtsmaßnahmen sind unnötig«: Er formuliert die Worte in Gedanken, schreibt sie aber nicht auf, da er immer noch seinen Unterarm betrachtet. Der neue Zug rast ihn hinauf und neigt sich in der Handgelenkkurve – doch der erste Zug ist auch noch da, donnert in umgekehrter Richtung. Er hebt den Kopf und hofft, ein besserer Überblick würde ihm eine Weiche anzeigen, ein Neben- oder Abstellgleis, auf das ein Zug umgeleitet werden könnte – oder, falls nicht, dann doch zumindest ein Signal in genügendem Abstand, mit dem man die Züge voreinander warnen könnte. Doch noch während diese Dinge in seiner Phantasie Gestalt annehmen, begreift er, dass kein Signal die Kollision verhindern kann, da die Dinge selbst , in ihrer innigen Verbindung, den Zusammenprall überhaupt erst ermöglichen. Die Katastrophe ist im Netz angelegt, durch die Knotenpunkte und Relaisstationen, die vielen, vielen Kilometer Schienenstränge, die sich teilen, verlängern und über den Radius einer jeden Überwachung hinaus erstrecken; sie ist vom Netz selbst ausgelöst worden, an irgendeinem längst vergangenen Zeitpunkt, der sich nicht mehr genau bestimmen lässt, aber dennoch ausschlaggebend wurde, und zwar so sehr, dass die Kollision seit jenem Augenblick – vor vielen Stunden, Tagen, Jahren
gar – unausweichlich geworden ist, nur noch eine Frage der Zeit. Der Prüfungssaal mit seinen Tischreihen verblasst für eine Weile, und Serge sieht sich vom Prellbock seiner Gedanken einem Stahlgewitter von Stangen, Achsen, Kurbelwellen und Brennkammern ausgesetzt, die alle miteinander kollidieren: Kolben, die durch Metall stampfen, Sitze, die aus Abteilen, Gänge, die von Fahrgestellen gerissen werden, Ventile, die ekstatisch kreischen und dann durch die Gegend fliegen, geschmolzene Bremsklötze, die helle Lichtstreifen verspritzen, Gleise, die angehoben und bis zur Unkenntlichkeit verbogen werden, als zerfiele der Raum selbst unter dem Gewicht und der Intensität der Anforderungen, die an ihn gestellt werden, unter dem schieren Insistieren der Maschinen, die alle Fesseln abstreifen und ihre wahre Natur zeigen…
Zwei Tage nach der Prüfung besteigt Serge einen echten Zug nach London. Er fährt durch Winternebel, den eine Sonne erhellt, die nicht hervorkommen will. Als er in St. Pancras aussteigt, hat sich der Nebel gelichtet, doch ist es immer noch diesig; Taxis stoßen kniehohe Qualmwolken aus, die langsam über den Bürgersteig driften, während er zu Fuß durch Bloomsbury nach St. James’s geht. Dünner Dunst liegt über dem Park; die Dächer von Whitehall Court, schwarze Pyramiden, die weiter oben in Kuppeln und Gewölbe übergehen, zerfließen und verschwimmen zu den Spitz- und Glockentürmen eines Märchenschlosses. Die Gebäude des Kriegsministeriums baden in fahlem Sonnenlicht, nur die tief eingelassenen Fenster schneiden dunkle Schattenhöhlen in die Alabasterfassade. Serge sagt dem Soldaten am Haupteingang, er habe einen Termin.
»Bei wem?«
»Generalleutnant Widsun.«
Als verblüffe ihn die Antwort, wirft ihm der Soldat einen zweiten Blick zu, bittet dann um seinen Namen, betritt ein
Wachhäuschen, greift zum Telephon und lässt ihn nicht aus den Augen, während seine Lippen unhörbare Worte formen. Nach einer halben Minute ist er zurück, zeigt in einen Hof und sagt: »Hier entlang, Sir, die Treppe rauf, Zimmer 615A.«
Serges Absätze klappern über
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