K
die Marmorflure. In einem davon sitzen etwa zwanzig Männer in seinem Alter auf Bänken, füllen Anträge aus und warten; einer von ihnen rückt zur Seite, um Serge Platz zu machen, aber er schlägt das Angebot aus, klappert weiter, biegt um die nächste Ecke, geht eine schmale Treppe hinauf und betritt einen neuen Flur, in dem, von großen Pflanzen halb verdeckt, Plüschsessel für ältere Herren in scharf gebügelten Uniformen bereitstehen. Die Tür zu 615A führt in ein Wartezimmer; eine Sekretärin lässt Serge unter dem Porträt eines verschlagen dreinblickenden Mannes aus Tudor- oder elisabethanischen Tagen, der einen Federkiel über ein mit schwarzen Ziffern bedecktes Blatt hält, Platz nehmen, schlüpft daraufhin durch eine zweite Tür, kommt zurückgeschlüpft und sagt ihm, er könne hineingehen.
Widsuns Büro ist riesig; allein auf dem Schreibtisch ließe sich das Modell eines Schlachtfeldes aufbauen. Dahinter, eingerahmt von den Planquadraten eines Doppelschiebefensters, strahlt Widsuns Gesicht aus steifem Khakikragen auf ihn herab.
»Serge, mein Junge!«
»Guten Tag, Sir.«
»Sir? Nichts da! Setz dich.«
Serge setzt sich ihm gegenüber an den Schreibtisch.
»Mein Kinetoskop-Enthusiast!«, sagt Widsun und bricht in schallendes Gelächter aus. »Mein gefiederter Zeuge! Mindestens doppelt so groß geworden! Und hübsch obendrein: ›Noch schmückt die Welt dein frischer Jugendschein, du Herold, der uns prallen Lenz verheißt.‹«
Serge senkt den Blick, sieht Schreibunterlage und Tintenkasten und langt instinktiv zum Stempel, ehe er innehält und die Hand wieder zurücknimmt.
»Bist du hungrig?«, fragt Widsun.
»Glaub schon«, erwidert Serge.
Auf dem Weg nach draußen reicht Widsun seiner Sekretärin ein Schreiben und weist sie an, drei Kollegen davon eine Kopie zu schicken. Während er sich sein Jackett überzieht, schaut Serge zu, wie die Sekretärin drei Blatt weißes Papier mit zwei schwarzen in abwechselnder Farbe übereinanderlegt; das Klicken und Hämmern der Tasten auf den fünf Blatt dicken Stapel beginnt, als sie durch die äußere Tür gehen, und folgt ihnen hinaus auf den Flur.
Sie essen im Criterion in Piccadilly. Widsun bestellt für sie beide Chateaubriand und eine Flasche Châteauneuf-du-Pape.
»Ich vermute, gesundheitlich geht es dir wieder gut?«, fragt er.
»Oh ja«, antwortet Serge. »An der Schule für Militärische Aeronautik wurde ich auf Herz und Nieren geprüft, auf Masern, Polio, Schwindsucht…«
»An der SOMA? Also wirst du einer von Donner Trenchards Vogelmenschen. Und? Hat man dir den Kopf schon vollgestopft mit Himmel und Wind?«
»Na ja, direkt geflogen sind wir noch nicht. Bis jetzt war es vor allem Theorie. Wir hatten Kartenkunde und mussten lernen, wie man mit dem Kompass umgeht, Kursbeschickungen durchführt, solche Sachen eben. Und man hat uns die Grundsätze des Schießens beigebracht: Flugbahn, Richthöhe, Zielpunkt, Aufschlagpunkt, all so was.«
» Ligne de foi , an mehr kann ich mich nicht erinnern. Worauf man zielt, stimmt’s? Die Visierlinie? Auch wenn ›Glaubenslinie‹ schöner klingt.«
»Davon wurde uns nichts erzählt«, sagt Serge. »Es ging meist mehr in Richtung Artillerie. Man hat uns Entfernungen und Reichweiten angegeben, und wir mussten den Blickwinkel von der Horizontalen errechnen, dann die Tagesabweichungen mit einbeziehen, also die Barbarameldung, Flugbahn und Fallwinkel ermitteln und …«
»Die Tagesabweichungen?«, fragt Widsun.
»Ach, du weißt schon, atmosphärische Bedingungen, Windgeschwindigkeit …«
Ein Pianist beginnt zu spielen. Das Restaurant füllt sich. Kellner gleiten zwischen den Tischreihen hin und her, als folgten sie in den Boden eingelassenen Spurrillen. Widsun mustert Serge und sagt mit wohlwollender Stimme: »Für einen Mathematiker habe ich dich bislang gar nicht gehalten.«
»Ach, für mich ist das auch keine Mathematik«, erwidert Serge. »Ich sehe nur Raum: Oberflächen, Linien… und einzelne blinde Flecken …«
Ein Kellner bringt den Wein. Widsun wirft einen Blick auf das Etikett und nickt zustimmend; der Mann macht sich daran, die Flasche zu öffnen. Widsun wendet sich wieder Serge zu und fragt: »Was ist mit Funk? Mir ist vor einiger Zeit zu Ohren gekommen, dass du ein richtiger kleiner Funkamateur sein sollst …«
»Das war ich.« Serge lächelt. »In der SOMA ging’s allerdings anders zu. Da wurden acht oder zehn Morser in einen Raum gesteckt, und um den spezifischen Ton von jedem zu
Weitere Kostenlose Bücher