Kabbala-Box (2 Romane in einem Band)
Arzt. Ich sehe ihn, er ist am Küchenfenster und er lacht. Und ich starre ihn nur stumm an. Leise beginnt mein Körper zu zittern, zuerst die Zehenspitzen, dann wandert das Zittern weiter die Waden hoch, durch meine Lenden und zum Bauch, an der Brust entlang und schließlich durch den Hals, der keine Luft mehr durchläst, der dicht macht, zum Kopf hinauf. Langsam weitergehen, denke ich. Die Luft ist noch immer im Hals stecken geblieben.
Einen Fuß nach dem anderen, Klaus.
Jetzt.
Verdammt, Klaus, geh einfach! Du darfst nicht warten, bis er dich sieht.
GEH!
Und ich bleibe stehen. Ich starre ihn an, als stünde ich meinem Mörder gegenüber. Er lehnt mit dem Rücken am K üchenfenster. Soll ich anläuten? Ich könnte doch einfach nur „hallo“ sagen, einfach nur mal kurz „servus“ rufen und wahrscheinlich nimmt er mich gar nicht wahr, wahrscheinlich ist da nichts mehr zwischen uns, aber ich weiß, dass ich jetzt gerne bei ihm wäre.
Nein!
Klaus, bitte, sei kein Narr!
Einfach umdrehen.
Einfach wegsehen.
Einfach einen Schritt wagen.
LUFT HOLEN!
Genau das ist es. Ich bin schon lange keinen Schritt mehr selbstständig gegangen. Da ich mir einbilde, abhängig zu sein. Warum glaube ich das eigentlich? Ich komme doch auch ohne ihn zurecht, oder? Na ja, das gut zurechtkommen hat jetzt nicht gepasst. Aber was passt denn dann? Ich komme zurecht .
War ja gar nicht so schwer.
Und jetzt ein Schritt.
Und ich gehe einen Schritt.
Ich bewege mich fort.
Und noch ein weiterer Schritt.
Die Sonne scheint schon kräftiger, ich gehe. Nein! Ich jogge wieder. Nicht schnell, nicht kontinuierlich, aber es geht. Weiter, weiter. LUFT HOLEN!
Heute fängt er später zu arbeiten an. Heute ist Mittwoch, mittwochs öffnet er später die Ordin ation. Deshalb habe ich ihn noch zu Hause sehen können. Ist auch egal, ist auch so was von egal. Ich jogge, weit weg. So weit, bis ich irgendwann einmal wieder zu Hause ankomme.
Kapitel 7
Mit den Hunden schnell eine Runde nach draußen spazieren gehen, dann duschen, dann ein wenig essen (viel ist ja eh nicht da) und ein bisschen relaxen. Ich nehme mir irgendein Buch aus dem Regal, welches ich vor ca. einem halben Jahr gekauft und dann weggelegt habe. Die ersten Seiten sind schnell gelesen, es liest sich gut. Es heißt Die Kannibalen von Candyland und ist geschrieben von Carlton Mellick III. Es ist ein Horrorbuch, ich mag Horrorbücher. – Nein, ich liebe Horrorbücher.
Ingo schläft noch immer in meinem Bett (was kein Horror ist, ganz im Gegenteil), er sieht süß aus. Und da ich seinen Arm neben dem Speibkübel immer wieder zucken sehe, dann Sa bber aus dem Mund tropft, wird mir wieder bewusst, wie romantisch ich sein kann. Dennoch bin ich noch nicht bereit für eine Liebesgeschichte á la Nicholas Sparks. Ein mich durchschleichendes Gefühl verrät, es könne sich nur um Jahre handeln.
Dann plötzlich wacht er auf. Die Hunde springen in mein Bett, eigentlich erlaube ich das nicht, doch sind mir – aus eigener Erfahrung – laute Töne nach einer versoffenen Nacht im Helikopter nicht gerade willkommen. So hauche ich und das erste, was Ingo macht, ist, er kotzt in den K übel. Nicht viel, denn alles, was er in seinem Magen zu haben schien, muss er während der Nacht rausgekotzt oder längst verdaut haben.
„Guten Morgen!“, kommt mir vorsichtig über die Lippen.
„Dir auch!“, sagt er, geht ins Badezimmer und duscht.
Er ist noch jung, er wird es schaffen. Das Speien ist bei unseren Jugendlichen immer und überall erlaubt, seitdem man sie frei erzogen hat. Das heißt: Man überlässt ihnen den freien Willen, erlaubt ihnen zu tun und zu lassen, was sie wollen und zerstört ihnen damit erst recht jede Moral und Einsicht. Ich mache Ingo und mir noch einen Kaffee. Toastbrot haben wir noch in der Wohnung, es wird reichen für ein kleines, mageres Frühstück. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal Toastbrot gegessen habe, es will mir nicht einfallen. Ich lache.
„Jetzt lache ich sogar schon über eine Scheibe Toastbrot.“
Ich toaste beide Seiten an, die ich vorher mit Butter eingeschmiert hatte.
Ingo kommt aus dem Badezimmer, er sieht noch immer verkatert aus und seine Stimme hört sich an wie ein altes Schloss, das nicht einschnappen will. Er krächzt und ich sage, dass draußen auf dem Balkon, wo die Hunde schon auf ihn warten, das Toastbrot mit Bu tter
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