Kabbala-Box (2 Romane in einem Band)
Widerrede.
Wir wollten uns sehen, genießen und spüren, hatten uns lieb gewonnen und es wurde demen tsprechend schöner. Jeder von uns brachte eine Lebensgeschichte mit, ich war der, der über sein Leben sprach, weil es so schön war. Ich genoss die Arbeit, das Studium, meine Freunde, alles was zu meinem Leben gehörte. An eine Beziehung dache ich nicht sofort. Irgendwann macht es dann klick und man spürt das eigenartige, grenzkomische Wort: Liebe. Der Arzt erzählte von seinem Leben nicht viel, wahrscheinlich musste er so sein, dachte ich mir, da er eben Arzt war und die waren im Allgemeinen alle recht eigen, wenn es um ihr Privatleben ging. – Als würde sich irgendein sterblicher Mensch (Ärzte nennen sich ja Götter in Weiß) für ihr Privatleben interessieren.
Jetzt stehe ich auf, ich muss nachhause, der Drang ständig an diese alten Geschichten zu denken, macht mich müde, es regnet, ich bin dementsprechend nass, kalt ist mir auch. Gefühlsblähungen würge ich nun schon hervor; zusammengesetzt aus zu gleichen Teilen Liebe, Mitgefühl und Furcht. Das Bedürfnis nach Selbstschutz wird stärker.
Somit beschließe ich über die Mauer zu klettern, die nicht sonderlich hoch ist. Und als ich auf der and eren Seite bin, bereit nachhause zu laufen, bemerke ich, dass mein Handy fehlt. Es muss beim Sprung verloren gegangen sein. Es konnte nur auf dem Grundstück liegen, den Aufprall auf der Straße hätte ich gehört. Ich beschließe wieder auf die andere Seite zu hüpfen. Dort würde ich zwar vor dem Licht des Bewegungsmelders sicher sein, aber dafür im blinden Zustand nach dem Handy suchen müssen. Es ist – obwohl es graut – noch immer recht finster. Es regnet mehr als zuvor (Wolken über Wolken) und ich spüre noch immer die Panik im Nacken, die meine Sinne aber nicht schärft, sondern ein nervöses Gefühl noch verstärkt.
Auf der anderen Seite beginne ich einzelne Stellen abzusuchen. Der Regen schlägt gegen die Fassade, als versuche er sie zum Einsturz zu bringen. Immer wieder blicke ich hastig um mich, komme mir wie ein Schwerverbrecher vor, bin wütend auf mich selbst, wütend auf die Situation, wütend auf den ganzen Scheiß, den man V erlassen-werden nennt. Verlassen zu werden ist scheiße! Zurückgelassen zu werden ist scheiße! In Gedanken vergiftet zu werden ist scheiße! Der Arzt ist scheiße! DU BIST SCHEIßE! Und dennoch hänge ich noch an der Nabelschnur, die ums Verrecken nicht abreißen will. Ich kriege Panik. „Scheiße, verdammt, verdammt“, flüstere ich wie ein Mantra vor mich hin. Bilder aus dem Gerichtsfernsehen, in denen ich die Hauptrolle spiele, kommen mir in den Sinn. Jugendlicher vor dem Haus des Exgeliebten festgenommen . So oder so ähnlich könnte die Schlagzeile in einer Zeitung lauten.
Ich finde mein Handy, wie die Olympiafackel halte ich es hoch. Es ist nass und ich versuche es ein wenig zu trocknen, indem ich es schüttle – „Shake that paranoia“ – und hüpfte dann wi eder über die Mauer – „Dancing like Madonna“ –, und laufe schnell an den Autos vorbei. Am Ende der beiden Autos entdecke ich Oskar, den Hauskater. Ich mag den Kater sehr. Er ist ein ständig hunger-habendes Wollknäuel. Langsam streichle ich Oskars Rücken, er hat die Zunge (wie immer) herausgestreckt, dabei die Augen geschlossen. „Na, mein Schöner, gut siehst du aus“, sage ich und das Wollknäuel schnurrt. Ich denke daran, wie lustig es mit ihm gewesen war, wie viel Spaß wir mit ihm gehabt hatten, wenn er in das Zimmer von Peter, dem jüngsten Sohn des Arztes, geschlichen kam. Der Arzt und ich lagen oft noch gemeinsam in Peters Bett, nackt, und streichelten Oskar gemeinsam, das genoss er sehr. Aber Oskar war auch einige Male dabei gewesen, wenn ich schreckliche Dinge erfahren, schreckliche Dinge gesehen und noch schrecklichere Dinge erlebt hatte.
„Ich muss weiter“, sage ich zu Oskar mit einer Träne im Auge und er miaut mich kleinlaut an. Ich streichle ihn über seinen Rücken, vie lleicht vier Minuten lang. Und ich erkenne, dass es nichts darüber aussagt, wie ein Mensch den restlichen Tag, die restlichen 1436 Minuten verbringt; obwohl lächelnd eine Katze gestreichelt wurde. Für vier Minuten. Lächelnd.
Ich laufe nach Hause. Der Lauf ist anstrengend, meine Muskeln sind müde geworden. Aber etwas in mir sagt, dass ich die Geschichte, unser erstes Treffen loslassen muss. Und irgendwie stelle ich mir vor, dass die Erinnerung mein Gehirn verlässt. Und irgendwie
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