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Kabeljau und Kaviar

Kabeljau und Kaviar

Titel: Kabeljau und Kaviar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte MacLeod
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Schließlich hielt er die Schale mit
beiden Händen hoch über dem Kopf, wie ein Maya-Priester, der seinen Göttern
eine Jungfrau zum Opfer darbringen will, und stellte sie in den ausgehöhlten
Rücken des Eisschwans. Er nahm sein Tablett, auf dem sich jetzt nur noch der
Dosenöffner und die geöffnete Büchse befanden, und schritt hinaus in den
Verbindungsgang zwischen Speisewagen und Dienstabteil, von wo aus offenbar
aufgetragen wurde.
    Eine Serviererin, die sich bisher im
Hintergrund gehalten hatte, trat an den Tisch und begann Brot und Toast mit
süßer Butter zu bestreichen, verteilte den teuren Fischrogen, garnierte ihn mit
ein wenig passiertem Eigelb und Zwiebeln und plazierte alles auf einem Tablett,
das eine andere Serviererin den Gästen anreichen sollte. Max machte sich nichts
aus Kaviar, daher schüttelte er den Kopf, als er an die Reihe kam. Marcia Whet
war schockiert.
    »Sie furchtbarer Mensch, wie konnten
Sie nur?«
    »Tut mir wirklich leid, aber ich mag
leider keinen Kaviar.«
    »Aber Sie hätten doch trotzdem etwas
nehmen und mir dann heimlich zuschieben können. Dann hätte ich mehr bekommen,
als mir eigentlich zusteht, ohne gefräßig zu erscheinen.«
    Normalerweise wird Kaviar immer nur in
ganz kleinen Portionen gegessen, weil er so mächtig ist. Entweder war der
Kaviar der Tolbathys eine ganz besondere Sorte, oder es lag daran, daß bisher
noch nichts anderes gereicht worden war, jedenfalls leerte sich die Schüssel
erstaunlich schnell. Die Gäste begaben sich sogar persönlich zu dem kleinen
Tisch und stellten sich ihre eigenen Hors d’œuvres zusammen. Max wartete
darauf, daß der Mann mit der silbernen Kette zurückkommen und den Schwan neu
auffüllen würde, was jedoch nicht geschah. Statt dessen nahm eine Serviererin
die leeren Schüsseln vom Tischaufsatz und trug sie hinaus. Max hoffte, daß die
nächsten Hors d’œuvres mehr nach seinem Geschmack sein würden.
Allmählich verspürte er nämlich Hunger.
    Außerdem empfand er plötzlich die
Bewegungen des fahrenden Zuges viel stärker als bisher. Aus irgendeinem Grund
hatten sie an Fahrt zugelegt. Fahrgäste, die zuvor ohne jegliche Anstrengung in
dem sanft schaukelnden Zug das Gleichgewicht gehalten hatten, griffen
verzweifelt nach allem, woran sie sich festhalten konnten.
    Hester Tolbathy sah überrascht aus, Tom
Tolbathy wütend. Er stellte sein Glas ab und wollte nach dem Rechten sehen. Max
vergaß seinen Hunger und beschloß, Tom zu folgen.
    In diesem Moment bremste der Zug, und
zwar so plötzlich, daß Flaschen und Gläser klirrend von der Bar fielen. Der
große silberne Tafelaufsatz rutschte vom Tisch, der Schwan zersprang in
unzählige Eiskristalle. Fahrgäste stürzten zu Boden. Tom Tolbathy drehte sich
um und zögerte, augenscheinlich hin- und hergerissen zwischen der Verantwortung
für seine Gäste und der Sorge um seinen Zug.
    Schließlich jedoch siegte der Zug. Tom
hastete durch den Salonwagen, dann durch den Tender. Gott sei Dank war das
Kanonenöfchen nicht umgefallen und hatte einen Brand verursacht. Entweder
bemerkte er nicht, daß Bittersohn ihm gefolgt war, oder es war ihm
gleichgültig, jedenfalls riß er die Verbindungstür auf und steckte seinen Kopf
in den Führerstand der Lokomotive.
    »Wouter, was zum Teufel — «
    Tom Tolbathy sprach nicht weiter. Sein
Bruder stand nicht am Schaltpult. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem
Boden des engen Führerstandes.
     
     

Kapitel
5
     
     
     
     
     
     
     
    »M ein Gott, Wouter! He, alter Junge, was
ist denn bloß los?«
    Tom Tolbathy kniete neben seinem Bruder
auf dem Boden, zog ihn zu sich hoch und versuchte ihn mit mehreren Schlägen auf
die Wangen wieder zu Bewußtsein zu bringen. Max sah den schlaff herabhängenden
Kopf, die halboffenen Augen und den leicht geöffneten Mund. Er legte eine Hand
auf Toms Schulter, um ihn zum Aufhören zu bewegen.
    »Ich fürchte, er wird nicht mehr aufwachen,
Tom.«
    »Wie meinen Sie das? Was fehlt ihm
denn?«
    »Ich glaube, er ist tot. Lassen Sie
mich mal, bitte.«
    Tom machte Platz, und Max kniete an
seiner Statt neben dem zusammengekrümmten Lokomotivführer. Nachdem er ihn etwas
genauer untersucht hatte, schüttelte er den Kopf.
    »Ich kann kein Lebenszeichen mehr
feststellen. Wissen Sie, ob Ihr Bruder Probleme mit dem Herzen hatte?«
    »Wouter? Nie! Er war kerngesund. Hat er
jedenfalls immer behauptet. Gott verflucht.« Toms Gesicht verzog sich, als
würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Er kann doch unmöglich tot

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