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Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)

Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)

Titel: Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blum
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ob das Original-Telefonkabel noch da war – die ersten Meter des allerersten Internetanschlusses –, wurden jedoch enttäuscht. Es gab keine Gedenktafel, keine Vitrinen mit historischen Gegenständen und ganz bestimmt keine Touristen – noch nicht. Kleinrock wollte den Raum in den Zustand von 1969 zurückversetzen, und ich stellte mir das so ähnlich wie Graceland vor, als einen Ort, an dem die Zeit stillsteht, mit dem IMP , einem alten Wählscheibentelefon und Fotos von Männern mit dicken Brillengestellen und angeklatschtem Haar. »Hier eine Wand einzuziehen und dort eine Tür einzubauen kostet 40 000 Dollar, und unser Budget dafür und für den Archivar sind 50 000 Dollar«, so Kleinrock. »Ich werde also eine ganze Menge Geld selbst zuschießen müssen, fürchte ich. Aber das geht schon in Ordnung. Ist ja für einen guten Zweck.«
    Während wir uns unterhielten, fand in dem Raum eine Übung statt, in der die Informatikstudenten, ihre Handys vor sich auf die Pulte gelegt, mit Lötkolben und grünen Leiterplatten hantierten, während ein Doktorand Anweisungen bellte. Niemand würdigte uns eines Blickes. Kleinrock war einer der ersten Vordenker des Internets, und die neunzehnjährigen Studenten, deren ganzes Leben von dieser Erfindung geprägt war – der Internet Explorer kam auf den Markt, bevor sie lesen lernten –, nahmen nicht mal Notiz von ihm. Das hier war kein Wallfahrtsort, sondern ein Unterrichtsraum, und als Touristenattraktion wurde er selbst vom Haus des Moderators Ryan Seacrest in den Schatten gestellt, das ganz in der Nähe stand. Was also hatte ich hier verloren?
    Hier in der Boelter Hall war das Internet einst ein überschaubares Unterfangen gewesen, ganz im Gegensatz zum Kabelsalat unserer Tage. Und Kleinrock, der die Erinnerung an diese Phase verkörperte, war noch immer hier. Natürlich hätte ich ihn anrufen können oder mit ihm skypen. Aber ich hatte beschlossen, aus persönlichen Erfahrungen zu schöpfen, und hatte (beispielsweise) das Bild vom Raum 3420, das man über eine Google Bildersuche findet, links liegen lassen. Ich wollte den Raum mit eigenen Augen sehen. An jenem Nachmittag, als ich vor meiner Verabredung mit Kleinrock etwas zu früh dran war, setzte ich mich vor der Boelter Hall auf ein Fenstersims, aß eine Tüte Chips und spielte mit meinem Handy herum. Meine Frau hatte mir gerade per Mail ein Video geschickt, auf dem unser Baby seine ersten Krabbelversuche unternahm. Die Bilder auf dem kleinen Bildschirm waren so lebendig, dass ich in meinem Kopf sofort zurück in New York war. Ich war hierhergekommen, um den ersten Knoten des Internets zu sehen, doch einer der jüngsten Knoten – den ich in meiner Hosentasche mit mir herumtrug – hatte mich abgelenkt. Wenn das Internet eine flüchtige neue Welt war, die sich von der alten, greifbaren Welt unterschied, dann schien mir die Boelter Hall ein Ort zu sein, an dem beide sich trafen und eine ungewöhnlich sichtbare Nahtstelle bildeten. Nur dass die Essenz, der ich auf der Spur war, von dem, was sie hervorgebracht hatte, verwässert wurde. Hier das funkelnagelneue Spielzeug, mit dem man überall online war; dort die alte Maschine im schimmligen Holzkasten. Was war eigentlich der Unterschied? Der IM P hier in der Boelter Hall war echt: kein Nachbau, kein Modell – und kein digitales Abbild. Deshalb war ich gekommen: Um die Details von Kleinrock selbst zu hören, um die Farbe der Wände mit eigenen Augen zu sehen, aber auch, um der leichten Reproduzierbarkeit von allem anderen eine Nase zu drehen. Den Ort selbst konnte man nicht online stellen und weiterverlinken – und ich muss gestehen, dieses Paradox machte mich ein wenig schwindelig. In seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschrieb Walter Benjamin 1936 die schwindende Bedeutung der »Aura«, der einzigartigen Essenz eines Objektes; 16 und jetzt suchte ich hier nach der Aura eben jener Erfindung, die der Idee der »Aura« ein für alle Mal den Garaus zu machen drohte.
    Ich gab die Frage weiter an Kleinrock: Wie kommt es, dass wir in Bezug auf das Internet so selten das Wort »Essenz« verwenden? Meistens ist es das genaue Gegenteil, was unsere Begeisterung weckt: die Leichtigkeit, mit der das Netz Dinge in Sekundenschnelle reproduziert; seine Fähigkeit, Informationen »viral« zu verbreiten. Die Folge ist, dass mittlerweile nicht nur die Aura vom Aussterben bedroht ist, sondern auch unsere Sehnsucht nach ihr – was sich darin zeigt,

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