Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)
mit Klebebindung, etwa so dick wie eine Modezeitschrift. Es enthält die etwas mehr als 5000 Namen der ARPANET -Nutzer, ihre Adresse, den Zahlencode für ihren IMP , und ihre E-Mail-Adresse – ohne die Endung ».com« oder ».edu«, die wurde erst ein paar Jahre später erfunden. Natürlich gibt es einen Eintrag für Leonard Kleinrock, mit derselben Adresse und Telefonnummer wie heute (Vorwahl, Postleitzahl und E-Mail-Adresse haben sich jedoch geändert). Mit Kleinrock auf einer Seite standen Informatiker vom MIT , vom University College London und von der University of Pennsylvania , der Kommandeur des Army Communications Research and Development Command in Fort Monmouth, New Jersey, sowie der Leiter der Strategic Studies Programming Division der Offhut Air Force Base in Nebraska – berühmt als Herstellungsort des HiroshimaBombers »Enola Gay«, als wichtigste Kommandozentrale in der Zeit des Kalten Krieges und als der Ort, an dem George W. Bush am 11. September 2001 kurzzeitig Zuflucht suchte – ein typischer Ausschnitt des ARPANET s. Es war ein Ort der Zufallsbegegnungen von Akademikern und Hightech-Soldaten, vereint durch das gemeinsame Ziel: die Entwicklung von Computernetzwerken. In dem Verzeichnis findet sich auf der Innenseite des Umschlags eine schematische Karte des ARPANET s, auf der die einzelnen Knotenpunkte beschriftet und mit dicken oder dünnen, geraden Linien miteinander verbunden sind, wie ein sorgfältig durchdachtes Flussdiagramm. Alle an das ARPANET angeschlossenen Rechner passen leicht auf eine Seite. Doch mit dieser Intimität sollte es bald vorbei sein.
In den achtziger Jahren betrieben die großen Computerfirmen – wie IBM , Xerox oder die Digital Equipment Corporation – und wichtige Regierungsstellen – wie die NASA oder das Energieministerium – ihre eigenen, unabhängigen Computernetzwerke, von denen jedes seine eigene Abkürzung hatte. Die Hochenergiephysiker hatten ihr HEP net, die Weltraumforscher SPAN , die Fusionsforscher das MFEN et. Auch in Europa war eine Handvoll Netzwerke entstanden, wie das EU net und das European Academic Research Network ( EARN ). Hinzu kam eine wachsende Zahl regionaler akademischer Netzwerke, deren Namen klingen, als handle es sich um die zwölf Söhne von Mr. und Mrs. Net: BARRN et, MIDN et, Westnet, North West N et, SESQUIN et.
Das Problem war, dass all diese Netzwerke nicht miteinander verbunden waren. Sie erstreckten sich zwar über die gesamten Vereinigten Staaten, zum Teil sogar darüber hinaus, aber sie funktionierten faktisch wie private Datenautobahnen, die Kapazitäten des öffentlichen Telefonnetzes nutzten. Sie überlappten sich geographisch, da sie teilweise den gleichen Universitäten Anschlüsse zur Verfügung stellten, und wahrscheinlich überlappten sie sich sogar physikalisch, weil sie dieselben Fernleitungen teilten, aber in der Sprache der Netzwerktechniker waren sie »logisch« voneinander getrennt. Es gab keine Verbindung zwischen ihnen. Sie waren so weit voneinander entfernt wie Sonne und Mond.
Und so blieb es bis zum Neujahrstag 1983, als nach jahrelanger Vorbereitung alle Hauptrechner des ARPANET s die elektronischen Regeln übernahmen, die bis heute die Grundlage für die Kommunikation zwischen den einzelnen Netzen sind, aus denen das Internet besteht. Technisch gesprochen wechselten sie das Datenübertragungsprotokoll (ihre »Sprache«) und stellten von NCP (»Network Control Protocol«) auf TCP / IP um (»Transmission Control Protocol/Internet Protocol«). Das war der Moment in der Geschichte des Internets, in dem das Kind des Mannes Vater wurde. Diese von den Ingenieuren von Bolt, Beranek and Newman koordinierte Umstellung fesselte Dutzende Systemadministratoren, die sich abmühten, die Deadline einzuhalten, am Silvesterabend an ihre Schreibtische. Einer von ihnen fertigte zum Andenken Anstecker mit der Aufschrift »I survived the TCP / IP transition« an. Jeder Knoten, der nicht rechtzeitig umgestellt war, blieb abgeschnitten, bis er die Anforderungen erfüllte. Doch als sich die Wogen einige Monate später wieder geglättet hatten, hatte die virtuelle Gemeinde eine einzige, internationale Sprache. TCP / IP mauserte sich vom wichtigsten Dialekt zur offiziellen Lingua franca .
Wie die Historikerin Jane Abbate anmerkt, markierte die Umstellung nicht nur eine verwaltungstechnische, sondern eine wichtige gedankliche Zensur: »Es genügte nicht mehr, darüber nachzudenken, wie man eine Reihe von Computern vernetzen kann.
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