Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)
zurückgelegten Kilometer lernten wir die Anzeichen besser zu lesen: Die Stahlabdeckungen für die Generatoren, die Revisionsschächte vor den Gebäuden, deren Deckel die Namen der Netzbetreiber zierten, die teuren Überwachungskameras. Das Gehen tat gut: Anstatt auf der Suche nach Drahtlosnetzwerken mit unseren Smartphones in der Luft herumzuschnüffeln, spürten wir handfeste Hinweise auf.
Wir gingen unter einer Hochstraße hindurch und gelangten in ein Viertel mit engen Straßen, in dem entlang eines weiteren Kanals ein halbes Dutzend Rechenzentren zwischen Autohändlern verstreut lagen. Die Rechenzentren waren größer. Ein Wellblech-Gebäude mit einem schmalen Fensterband, das sich um den gesamten ersten Stock zog, gehörte (der Karte zufolge) Equinix. Im Vergleich zu den Fertigbetonbunkern in Ashburn hätte es mit seinen Fensterreihen und der gegliederten Fassade geradezu von Le Corbusier sein können. Nach halbwegs ernst zu nehmenden architektonischen Maßstäben war es jedoch völlig unscheinbar; wenn wir nicht gezielt danach gesucht hätten, wären wir schnurstracks daran vorbeimarschiert. Wir blieben stehen, um es zu bewundern, und Brown nahm einen Schluck aus seiner Trinkflasche, als wären wir auf einer Bergwanderung. Eine Ente – grüner Kopf, gelber Schnabel, orangefarbene Füße – kam zu uns her gewatschelt. Kälte und Müdigkeit krochen in uns hoch. (Smithson: »Mein Film ging zu Ende, und ich war hungrig.« 36 ) Mittlerweile war ich so müde – nicht nur von unserem Spaziergang, sondern von dieser ganzen Woche in der falschen Zeitzone und im Mief des Internets –, dass mir plötzlich klar wurde, was ich da eigentlich tat: Ich reiste in der Welt herum, um mir Gebäude aus Wellblech anzuschauen. Ich wusste jetzt, wie das Internet aussah, im Großen und Ganzen jedenfalls: wie ein Lagerhaus. Aber wie ein ungewöhnlich hübsches.
* * *
Am nächsten Tag besuchte ich Witteman im Büro von AMS - IX . An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing eine bearbeitete Version des Filmplakats von 300 , einer Comicverfilmung über die Schlacht bei den Thermopylen. Das Originalposter mit der Überschrift »Heute Nacht speisen wir in der Hölle« zeigt einen wütenden, zähnefletschenden Spartiaten, der seine Brust entblößt. Auch die Version von Witteman zeigte den Soldaten, doch der bluttriefende Text lautete: »Wir sind die Größten!« Ich hatte eine vage Ahnung, wer in dieser Phantasie die Perser repräsentierte. Während der Frankfurter Internetknoten mit einer blank polierten Oberfläche glänzte, versuchte der AMS - IX offenbar, sich einen bewusst informellen Anstrich zu geben, eine Philosophie, die auch in den Büros in einem Zwillingspaar historischer Stadthäuser in der Altstadt zum Ausdruck kam. Die jungen Mitarbeiter aus aller Welt trafen sich wie eine Familie täglich zum Mittagessen, das im Haus gekocht und an einem Tisch mit Blick auf den Garten hinter dem Haus serviert wurde. Am AMS - IX herrschte eine heimelige Atmosphäre, wie sie mir im Internet bisher nicht begegnet war. Mochte das Internet auch oft mit Verschwörungstheorien und verborgener Infrastruktur in Verbindung gebracht werden – dieser Netzknoten verkörperte einen Geist der Offenheit und der individuellen Verantwortung. Wie sich herausstellen sollte, umwehte dieser Geist auch die physische Infrastruktur.
Vor dem Mittagessen holten wir Hank Steenman ab, den Technik-Guru von AMS - IX , der sein Büro gleich gegenüber von Witteman hatte, und stiegen dann alle drei in die alte Klapperkiste von AMS - IX , einen Minivan voller alter Kaffeebecher. Unser Ziel war der zentrale Switch in einem der Rechenzentren, an denen Brown und ich vorbeigelaufen waren. Vor der Tür gab es einen Fahrradständer, dahinter eine lichtdurchflutete Eingangshalle mit gerahmten Karten des Internets an den Wänden. Wir liefen einen breiten Gang entlang, von dem zahlreiche leuchtgelb gestrichene Türen abgingen, und kamen an einem Raum von KP N vorbei, voller Serverschränke im patentierten Grün der Firma. AMS - IX belegte einen großen Käfig am Ende des Ganges. Die gelben Glasfaserkabel waren perfekt aufgerollt und gebündelt. Die Maschine, in die sie eingesteckt waren, kam mir bekannt vor. Sehr bekannt sogar. Es war ein Brocade MLX -32, wie er auch in Frankfurt im Einsatz war. Leider erstreckte sich der Genius Loci des Internets nicht auf die Maschinen. »So sieht also das Internet aus!«, witzelte Witteman. »Kästen wie der hier. Gelbe Kabel. Jede Menge
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