Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)
Milliarden Gulden zu erwarten ist, brauchen wir für die Logistik der Bits einen eigenen Ort.« Zum Beweis genüge ein Blick in die Geschichte: »Schon zu Zeiten der Ostindien-Kompanie war der freie Zugang zum Meer ein entscheidender Erfolgsfaktor. Heute ist es der Zugang zu den digitalen Arterien des World Wide Web.« 33 Während Frankfurt das Glück hatte, in der geographischen Mitte Europas zu liegen, hatte Amsterdam fleißig darauf hingearbeitet, ein logisches Zentrum des Internets zu werden. Wenn sich daraus eine allgemeine Lehre ableiten ließ, dann die: Staaten sollten in die Infrastruktur investieren – und danach das Feld räumen. Das Internet war in seiner Geschichte stets auf Starthilfe angewiesen, um in die Gänge zu kommen, hat dann jedoch enorm davon profitiert, wenn es sich frei entfalten konnte.
Die wichtigste Zutat in Amsterdam und überall sonst waren (und sind) Glasfasern. 1998 verabschiedete das niederländische Parlament ein Gesetz, wonach Landbesitzer privaten Netzbetreibern die Möglichkeit einräumen mussten, Glasfaserkabel zu verlegen – ein Recht, das bis dahin der niederländischen Telefongesellschaft KPN vorbehalten gewesen war. Das Gesetz ging sogar noch einen Schritt weiter: Jedes Unternehmen, das Kabel verlegen wollte, musste das ankündigen, so dass andere Firmen Gelegenheit hatten, gleichzeitig ihre eigenen Glasfasern zu verlegen und sich an den Kosten zu beteiligen. Das sollte einerseits verhindern, dass Straßen mehrfach aufgerissen wurden. Noch wichtiger jedoch war, dass dieses Vorgehen half, die alten Monopole aufzubrechen.
Der Erfolg war fast schon skurril. Ich besuchte Kees Neggers, den Leiter des akademischen niederländischen Computernetzwerks SURF net, der beim Aufbau des niederländischen Internets eine wichtige Rolle gespielt hat, in seinem Büro hoch über dem Bahnhof von Utrecht. Er zog einen gebundenen Bericht aus dem Regal und schlug eine Seite voller Fotos aus der Zeit des großen Grabens auf. Auf einem der Bilder ragten Dutzende bunter Kabel aus der weichen Erde eines Polders und fächerten sich auf; das Ganze sah aus wie ein gestrandeter, aufgeschlitzter Wal. Auf einem anderen Bild quollen Dutzende Kabel aus der Tür eines Amsterdamer Reihenhauses. Wie sie so auf dem Kopfsteinpflaster lagen und darauf warteten, vergraben zu werden, blockierten sie eine ganze Fahrspur. Die Farben – orange, rot, grün, blau, grau – zeigten den jeweiligen Besitzer an; jedes von ihnen enthielt Hunderte Glasfaserleitungen. Der Überfluss war absurd, und er ist es noch heute. »Sie haben sich die Kosten geteilt, um entlang der Deiche Leitungen zum Amsterdam Internet Exchange zu verlegen. Dadurch waren sie auf einen Schlag alle angebunden – und konnten sehr kostengünstig Daten untereinander austauschen«, so Neggers. »Und dann folgte ein explosionsartiges Wachstum.«
Das Ausmaß dieses Wachstums wurde mir erst klar, als ich im Internet über eine Google-Karte Marke Eigenbau stolperte, auf der ein gewisser »Jan« mit farbigen Reißzwecken den Standort von fast einhundert niederländischen Rechenzentren markiert hatte, als handle es sich um Coffeeshops. Grüne Reißzwecken standen für AM S - IX -Standorte, rote für Gebäude privater Netzbetreiber, und blaue für Rechenzentren, die nicht mehr in Betrieb waren. Als ich aus der Karte herauszoomte, bis ich die ganzen Niederlande sehen konnte, war der ganze Bildschirm von Reißzwecken bedeckt, die sich, Windmühlen gleich, alle in dieselbe Richtung neigten. Für mich war das ein beeindruckendes Beispiel für niederländische Transparenz: Hier waren auf einer Seite völlig frei zugänglich die gleichen Informationen versammelt, die WikiLeaks als sensibel genug eingestuft hatte, um sie zu veröffentlichen. Und niemanden schien es zu stören. Die Karte stand bereits seit zwei Jahren im Netz, ohne Aufsehen zu erregen.
Zugleich erhellte sie einen allgemeineren Punkt, den ich schon seit Monaten umkreiste. Sie zeigte die kleinräumige Geographie des Internets, die Ballung von Rechenzentren in regelrechten Internet-Vierteln wie den Industriegebieten um den Flughafen Schiphol, dem Stadtbezirk Zuidoost südöstlich des Zentrums und dem Science Park Amsterdam. Auf einer entsprechenden Karte der Gegend um Ashburn oder des Silicon Valley würden sich zweifelsohne ebenso viele Einzelstandorte finden. Doch im Vergleich zu den ausgedehnten Vorstädten amerikanischen Maßstabs waren die Niederlande erstaunlich kompakt. Und so kam mir der Gedanke
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