Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Sonja sah wahrhaftig nicht gut aus. Emma registrierte mehrere typische Anzeichen von Hypoglykämie. Wenn nicht bald Hilfe eintraf, würde ein körperlicher Schockzustand eintreten, der sogar tödlich enden konnte.
Bitte nicht
, dachte Emma und wandte sich in tiefster Inbrunst an ihren Schutzengel. Sie hatte die Befürchtung, dass ein weiterer Todesfall zu völligem Chaos oder gar Mord und Totschlag führen würde. Davon abgesehen, hatte sie die junge, selbstbewusste Frau in ihr Herz geschlossen. Sie wollte nicht, dass Sonja etwas zustieß. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie mit ihr getauscht.
Rüdigers Idee mit den Kinderspielen war von den übrigen Fahrgästen ignoriert worden. Der Pharmazeut hatte zwar versucht, Sebastian und Martin zu einem Wettkampf in
Schere, Stein, Papier
zu überreden, war jedoch auf taube Ohren gestoßen. Im Moment gab es nur eine Tätigkeit, die wirklich Anklang fand: stumm da sitzen und ins Leere starren.
So war es auch bei Samantha. Nach Sonjas Gesang war die Kleine in Lethargie versunken. Sie schlief nicht, aber ihr glasiger Blick war ein Spiegel des Nichts. Tiefe Augenringe hatten sich in ihrem Gesicht festgesetzt. Das Mädchen wirkte krank und sehr viel älter, als es tatsächlich war.
Kurzerhand erhob sich Emma von ihrem Sitz, ließ sich neben Doris’ Tochter nieder und nahm sie in den Arm. Samantha ließ es geschehen. Stillschweigend und ohne eine sichtbare Reaktion.
„Wie machen wir das mit den … Toten“, flüsterte Michelle und warf einen flackernden Blick in Richtung der beiden reglosen Körper.
„Was meinst du?“ Rüdigers Stimme schwankte.
„Na ja … Wir können nicht einfach aus der Gondel aussteigen und so tun, als wäre nichts passiert.“
„Es wird mit Sicherheit polizeiliche Ermittlungen geben“, schaltete sich Matteo ein. „Erst recht, weil die Todesursache unklar ist. Vermutlich werden wir einzeln befragt und die Toten obduziert werden. Falls Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden kann, dann … werden sie uns weitere Fragen stellen, nach Spuren suchen, Fingerabdrücke und DNA-Proben nehmen. Das volle Programm.“
„Gut so“, murmelte Sonja.
Kitzbühel, Hotel Goldener Hirsch
Sonntag, 7. Januar, 07:15 Uhr
Sie waren in ihr Hotelzimmer zurückgekehrt. Über das Funkmeldesystem des Dienstwagens alarmierten sie die Spurensicherung und erstatteten im Präsidium Bericht. Leider war Mathias nicht erreichbar. Bernhard hätte gern persönlich mit ihm gesprochen. So musste er sich damit begnügen, ihm eine Nachricht mit dem Vermerk
Dringend!
zu hinterlassen.
Anna hüllte sich in Schweigen. Ihr Gesicht spiegelte abwechselnd Wut, Entschlossenheit und blankes Entsetzen wider. Der Anblick der abgeschnittenen und wie Amphibien eingelegten Klitoris war mehr, als sie ertragen konnte. Bernhard fühlte Mitleid. Sogar ihm selbst, der sich durch zahlreiche ekelerregende Mordfälle für hinlänglich abgebrüht hielt, war bei den perfiden Sammelstücken des Täters übel geworden. Diese Ermittlungen mauserten sich zu einer weit dramatischeren Feuerprobe, als er Anna jemals gewünscht hätte.
Das Zimmertelefon erwachte zum Leben. Bernhard war von seinen Gedanken abgelenkt und warf dem Apparat einen irritierten Blick zu. Anna nahm den Anruf entgegen.
„Ja, bitte?“
Bernhard verstand zwar die Erwiderung nicht, sehr wohl aber Annas Gesichtsausdruck: Plötzliche Erregung zeichnete sich darauf ab.
„Ja, stellen Sie die Dame durch“, sagte Anna und winkte Bernhard herbei. „Es ist für dich.“
Bernhards Verwirrung wuchs. Wer in aller Welt wollte ihn an einem Sonntag um sieben Uhr morgens sprechen? Und woher wusste die Unbekannte, dass er hier in diesem Hotel abgestiegen war?
„Entschuldigen Sie die frühe Störung“, meldete sich eine schüchtern klingende Frauenstimme. „Spreche ich mit Kommissar Bernhard Lichtenberger?“
„Ja, am Apparat.“
„Mein Name ist Bettina Wolfgruber. Ich arbeite im Hotel Tiefenbrunner. Sie waren gestern Abend hier und haben sich wegen eines Mannes erkundigt.“
„Richtig.“ Bernhard gab Anna einen Wink, ihm Notizblock und Bleistift zu bringen.
„Ich war mir nicht sicher, habe mich jetzt aber bei der Kollegin erkundigt, die Donnerstagnachmittag Dienst hatte“, fuhr die junge Frau fort. „Sie hat gemeint, dass tatsächlich ein Mann mit stahlblauen Augen eingecheckt hat.“
„Alles klar. Ist Ihre Kollegin momentan erreichbar?“
„Ja. Soll ich sie ans Telefon holen?“
„Nicht notwendig“, meinte Bernhard
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