Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
und erfasste seinen gesamten Körper.
„Bitte, Benjamin. Ich weiß, dass dir Natascha viel bedeutet, aber …“
„Ich muss sie suchen“, murmelte Benjamin mehr zu sich selbst als in Franz Richtung.
„Das wirst du nicht!“, empörte sich der Betriebschef. „Wir brauchen dich zur Koordination der Rettungs- und Sicherungsmaßnahmen.“
Benjamin drängte den Schmerz, die nagenden Ängste, aufkeimenden Schuldgefühle, seine Unsicherheit und die Empfindung bleierner Leere zurück. Er konnte unmöglich hier bleiben. Natascha brauchte ihn. „Ihr haltet die Stellung“, sagte er, an Ibrahim und Maximilian gewandt. „Der Bergewagen wird erst wieder eingesetzt, wenn die Sturmspitzen unter einhundertzehn Stundenkilometer sinken.“
Benjamin ergriff seinen Rucksack, riss den Notfallkoffer und ein tragbares Funkgerät von der Wand und hastete aus dem Kontrollraum.
„Du bleibst, verdammt noch mal, auf deinem Posten“, erklang Franz’ schneidende Stimme. „Die Bergrettung hat gerade mit der Suche begonnen.“
Aber das hörte Benjamin schon nicht mehr.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Seilbahnstütze
Samstag, 6. Januar, 11:19 Uhr
Kälte.
Schmerz.
Brüllende Dämonen.
Chaotische Empfindungen brandeten durch ihren Körper. Sie wusste nicht, wer sie war. Sie wusste nicht, wo sie war. Ihre Gefühle waren ihr fremd. Ihr Körper zur Hälfte taub, die andere Hälfte von grauenvoller Pein erfüllt. Sie vernahm unstetes Heulen, schmeckte warme, zähe Flüssigkeit, roch Schnee und Eis.
Natascha
, dachte sie, und ihre Erinnerungen kehrten zurück.
Ich bin in Kitzbühel … Die 3S-Bahn ist ausgefallen … Mehrere Kabinen hängen im freien Spannfeld … Jürgen und ich fahren mit dem Bergewagen … Ich steige auf das Fahrrad, bewege mich auf die Seilbahnstütze zu … Ein heftiger Ruck … Ich stürze, falle
…
Natascha öffnete die Augen.
Weiß.
Alles war weiß.
Verzweiflung loderte in ihr empor.
Bin ich blind? Habe ich mein Augenlicht verloren?
Das Weiß besaß Flecken, hellere und dunklere. Sie wirbelten umher, fegten an ihr vorbei wie tanzende Schneegeister.
Schnee
, dachte sie erleichtert.
Es schneit
.
Natascha wandte den Kopf. Sofort schoss ein qualvolles Stechen durch ihren Schädel. Dennoch drehte sie sich weiter, bemühte sich, Arme und Beine zu bewegen. Ihr Körper war gestaltgewordene Pein. Pein und Kälte. Natascha hustete, spie einen Batzen Blut aus, der geräuschlos in der Tiefe verschwand. Es war eine erschreckende Tiefe. Sie hing in den Streben der Seilbahnstütze. Zwei Meter über ihr verliefen die Taue des Bergseils, mehr als siebzig Meter unter ihr war der Erdboden zu erkennen. Weit und breit keine Menschenseele. Und kein Bergewagen.
Seilbahn GmbH Kitzbühel, Besprechungsraum
Samstag, 6. Januar, 11:21 Uhr
„Die Durchsagen in den Kabinen könnt ihr euch sparen“, erklang Moritz blecherne Stimme. „Die Fahrgäste sagen einhellig, dass sie nichts gehört haben.“
„Die Fahrgäste welcher Gondel?“, erkundigte sich Franz.
„Aller Gondeln. Dürfte wohl ein Problem mit den Lautsprechern geben.“
Franz vergrub das Gesicht in den Händen. Wenn die Situation nicht derart besorgniserregend gewesen wäre, hätte man über das Schlamassel beinahe lachen können. Eine solche Aneinanderreihung von unglücklichen Zufällen, technischen Gebrechen und menschlichem Versagen spottete jeder Logik.
Es kann keinen Gott geben
, dachte Franz.
Und wenn, ist er entweder Sadist oder der Teufel
.
„Wir haben die Presse informiert“, sagte Philipp. „Ließ sich nicht länger vermeiden.“
Franz nickte unbeeindruckt. Die Medien waren seine geringste Sorge.
„Wir erhalten demnächst Unterstützung von einer zweiten Polizeistreife“, fuhr Philipp fort. „Auch die Feuerwehren sind alarmiert, dürften aber noch eine Weile brauchen; die sind wegen dem Orkan im Dauereinsatz.“
„Ich glaube nicht, dass uns die Feuerwehr von Nutzen sein wird“, gab Franz zurück.
„Vermutlich nicht“, bestätigte Georg, der den kiloschweren Ordner mit den ausgedruckten Sicherheitsbestimmungen in Händen hielt. „Aber laut Alarmplan …“
„Ja, ja, schon gut“, unterbrach ihn Franz und verdrehte die Augen. „Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden wir uns alle zusammensetzen und die weitere Vorgehensweise besprechen müssen. Die Lage, in der wir uns befinden, ist außerordentlich. Bei dem Wetter können wir die verbliebenen Gondeln nicht mit dem Bergewagen hereinholen.“
„Apropos Wetter“, sagte Wilhelm.
Weitere Kostenlose Bücher