Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
bekümmerten ihn wenig. Es war eine Situation, die verborgene Triebe und verdrängte Ängste wachrief. Eine Situation, die ihm beileibe nicht unbekannt war. Er hatte eine Menge Übung darin, sich solche Momente nutzbar zu machen. Die Enge der Kabine, fremde, unberechenbare Personen, das unwirtliche Wetter und ihr ungewisses Schicksal waren zweifellos keine einfachen Bedingungen. Es waren Herausforderungen. Vor solchen hatte er sich noch nie gedrückt.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Seilbahnstütze
Samstag, 6. Januar, 11:25 Uhr
Nataschas Verstand arbeitete auf Hochtouren. Sie hatte die verbliebene Lethargie abgeschüttelt und den Ernst ihrer Lage erfasst: Allein in einem Schneesturm, mehr als fünfzig Meter über dem Boden, ohne eine Möglichkeit Hilfe zu rufen; ihr Mobiltelefon musste sie beim Sturz verloren haben. Zudem war sie verletzt. Ihr linker Oberschenkel schmerzte höllisch, ihre Wade und der Fuß fühlten sich taub an und ließen sich kaum bewegen. Möglicherweise war das Bein gebrochen. Auf jeden Fall gebrochen waren zwei Finger der rechten Hand. Sie standen in einem unnatürlichen Winkel ab, verzerrten die Glieder des Handschuhs, als würde sie dem Schneesturm ein groteskes Peace-Zeichen entgegenstrecken. Sie wagte es nicht, den Fäustling zu entfernen, aus Angst, dass sie den Handschuh nicht mehr über die Finger bekommen und sich Erfrierungen zuziehen würde. Ihr Brustkorb war eine weitere Quelle von Schmerz. Jeder Atemzug brannte höllisch. Sie hoffte inständig, dass nicht auch ein paar ihrer Rippen gebrochen waren. Eine unbestimmte Anzahl an Prellungen und kleineren Wunden vervollständigten die Sammlung. Aber es hätte schlimmer kommen können. Sie könnte tot sein.
Was noch nicht ist, kann ja noch werden
.
Sie wollte nicht sterben. Sie war viel zu jung, hatte für ihr Leben noch so viele Perspektiven und Hoffnungen. Insbesondere jetzt, nachdem sie einen Mann kennengelernt hatte, mit dem sie eine tiefe Seelenverwandtschaft verband.
Nein. Ich werde nicht sterben. Auf gar keinen Fall!
Sie musste von dieser Stütze herunter. So rasch als möglich. Hier oben war sie den widrigen Wetterbedingungen schutzlos ausgeliefert. Darüber hinaus würde sie niemand bemerken, selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass Rettungskräfte vorbeikamen.
Ächzend griff Natascha nach der Strebe über sich und begann den Abstieg.
Schiregion Kitzbühel, Piste 34
Samstag, 6. Januar, 11:30 Uhr
Benjamin stieß eine Tirade an Verwünschungen aus, trat nach dem Schneemobil und brüllte wie ein Wahnsinniger.
Das darf doch nicht wahr sein!
Wenige Dutzend Schritte bis zur Seilbahnstütze, und der Schrotthaufen von Motorschlitten gab den Geist auf. Welches perfide Schicksal konnte sich eine solch grausame Strafe ausdenken? Benjamin war vorhin an einer Gruppe Schifahrer vorbeigekommen, die von zwei Bergrettern ins Tal gebracht wurde. Einer der beiden rief ihm etwas zu, aber Benjamin war ohne innezuhalten an der Truppe vorbeigebraust. Womöglich wollte ihm der Mann mitteilen, dass Natascha bereits gerettet war.
Benjamin warf einen Blick auf sein Funkgerät. Nein, er würde das Hauptbüro nicht anfunken. Franz war mit Sicherheit nicht gut auf ihn zu sprechen. Außerdem spürte er, dass Natascha in Gefahr war. Er fühlte es so deutlich, als würde sie neben ihm stehen.
Benjamin gab dem defekten Schneemobil einen letzten Tritt, dann schulterte er seinen Rucksack, griff nach dem Erste-Hilfe-Koffer und dem Funkgerät. Zuletzt hatte er Natascha bei der Seilbahnstütze gesehen. Dort würde er zu suchen beginnen.
Benjamin marschierte los.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Seilbahnstütze
Samstag, 6. Januar, 11:32 Uhr
Fünf Meter über dem Boden verließen Natascha die Kräfte. Der Sturm heulte und pfiff, Schneeflocken stachen wie Nadeln in ihr Gesicht. Die Metallleiter, die am Rand des Masts in die Tiefe führte, war feucht und glitschig. Mehrmals glitt Natascha mit Händen oder Füßen ab und konnte sich nur dank ihrer guten Reaktionsfähigkeit an die Streben klammern. Nun aber waren ihre Kraftreserven erschöpft. Sämtliche Muskeln in Nataschas geschundenem Körper schmerzten, waren derart verkrampft, dass sie nicht einmal die Finger von den Streben der Leiter zu lösen vermochte. Tränen der Verzweiflung rannen über ihre Wangen. Jetzt war sie so weit gekommen und sollte nun hilflos in diesem Metallgerüst hängend ihr Leben aushauchen wie eine Fliege an einem Fliegenfänger?
Wut und eiserner Überlebenswille
Weitere Kostenlose Bücher