Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
„Wir brauchen eine umfassende und möglichst exakte Prognose für die kommenden Stunden.“
„Das ist richtig“, bestätigte Franz. „Wir haben eine Kooperation mit der Zentralanstalt für Meteorologie in Innsbruck, die müssen uns weiterhelfen. Georg.“ Er wandte sich seinem Kollegen zu. „Das übernimmst du.“
Innerlich konnte sich Franz ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Eine äußerst praktikable Lösung, um Georg ruhigzustellen. Der stellvertretende Betriebschef hasste kaum etwas mehr als Telefongespräche.
Innsbruck, ZAMG, Ausweichquartier
Samstag, 6. Januar, 11:24 Uhr
Beinahe hätte Andreas das Läuten des Mobiltelefons überhört. Nach dem letzten Anruf eines redefreudigen Pensionisten war das Gerät von der Tischkante gerutscht und in einen Haufen Altpapier gefallen.
„Ja?“
„Guten Tag. Hier spricht Georg Semmelweis, stellvertretender Betriebsleiter der Seilbahn GmbH Kitzbühel.“
Andreas wusste augenblicklich, dass sich die Lage zugespitzt hatte. „Haben Sie die Seilbahngondeln in Sicherheit bringen können?“, fragte er.
„Ähm … nein. Leider konnten wir nicht alle Kabinen sichern. Einige befinden sich noch im Freien. Durch Sturm und Schneefall können wir derzeit keine Bergung durchführen. Das heißt, wir brauchen eine Abschätzung der weiteren Wetterentwicklung sowie der kommenden Lawinengefahr für unsere Einsatz- und Rettungsplanung.“
Andreas zögerte. Da die Frequenz der Telefonanrufe auf ein erträgliches Maß zurückgegangen war, wollte er eigentlich in zehn Minuten den Heimweg antreten. Aber für die Anfrage aus Kitzbühel konnte er nicht auf die pauschale Prognose für Tirol zurückgreifen. Sie war viel zu ungenau. Man musste die örtlichen Begebenheiten berücksichtigen, keine Frage; idealerweise sollte man lokale Windprofile erstellen, Temperaturmessungen durchführen, die Topografie erkunden und eventuelle Schneeverfrachtungen beurteilen.
Damit nicht genug. Hinzu kam, dass Andreas Schuldgefühle plagten. Vermutlich würde jeder andere verständnislos den Kopf schütteln. Schließlich hatte Andreas vorschriftsmäßig gehandelt, eine Warnung per E-Mail verschickt und mehrmals versucht, einen Verantwortlichen in Kitzbühel telefonisch zu erreichen. Dennoch. Er wurde die unangenehme Empfindung nicht los, dass er Mitschuld an dem Seilbahnunglück trug. Schon deshalb, weil es nicht irgendeine Gewitterfront gewesen war. Es war der Sturm aus seinem Traum. Andreas’ Gedanken und Überlegungen wogten hin und her. Er kam zu dem Schluss, dass es angesichts der dramatischen Entwicklung bloß eine sinnvolle Lösung gab. „Ich werde nach Kitzbühel kommen“, sagte er. „Eine exakte Abschätzung der Lage ist nur vor Ort möglich.“
Und außerdem
, dachte er,
kann man nie genug Überstunden haben
.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 11:25 Uhr
Die Stimmung in Kabine vierzehn war in den letzten Minuten rapide gesunken. Nicht nur die vergeblichen Versuche, telefonischen Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen, rüttelten an der allgemeinen Gemütslage. Auch war der Sturm weiter angeschwollen und brachte die Gondel in ähnlich heftige Schwingungen wie die Böen des Gewitters vor zwei Stunden. Dazu kam der Schneefall, der sich mittlerweile zu einem tobenden Blizzard entwickelt hatte. Selbst die nur dreihundert Meter entfernte Seilbahnstütze war nicht mehr als ein vager Umriss.
Doris erschauderte und wandte den Blick ihrer Tochter zu. Doch Samantha war ruhig. Sie saß ausnahmsweise stumm und ohne zu zappeln neben ihrer Mutter, hatte die Arme verschränkt und mahlte einen virtuellen Kaugummi zwischen ihren Zähnen. Glücklicherweise zeigte sie keinerlei Anzeichen von Verunsicherung oder gar Panik. Das war gut. Doris wusste nicht, wie sie ihr tobendes Kind hätte beruhigen sollen; erst recht nicht, seitdem Samantha die Süßigkeiten vertilgt hatte.
Doris hatte ein ungutes Gefühl. Es wollte ihr nicht in den Kopf, dass die erhoffte Rettung durch den Bergewagen im letzten Moment abgebrochen worden war. Was machten die fünf Minuten mehr oder weniger für einen Unterschied? Doris hatte den stillen Verdacht, dass es ein ernsthaftes Problem gab und ihre Rettung nicht so rasch stattfinden würde.
Vielleicht auch nie
, sagte eine Stimme in ihrem Kopf.
*
Je mehr sich die Anspannung auf den Gesichtern der übrigen Fahrgäste festsetzte, desto gelassener wurde er. Das Schaukeln der Kabine, der heulende Sturm, die allmählich spürbar werdende Kälte
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