Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Heiterkeit verebbte, die Gesichter wurden lang und länger, und nicht wenige Blicke wanderten furchtsam zu den Fenstern.
„Toll gemacht“, flüsterte Matteos Stimme an ihrem Ohr. „Emma, die Königin des Frohsinns.“
Schiregion Kitzbühel, Piste 34
Samstag, 6. Januar, 11:59 Uhr
Benjamin hätte Natascha am liebsten eigenhändig ins Tal getragen, aber die Bergretter ließen das nicht zu. So musste sich Benjamin damit begnügen, neben der Tragbahre herzulaufen und von Zeit zu Zeit nach Nataschas Hand zu greifen. Sie war in einen ohnmachtsähnlichen Dämmerzustand gefallen und schien kaum etwas von ihrer Umgebung mitzubekommen. Der Bergretter hatte zwar behauptet, Natascha sei nicht lebensgefährlich verletzt, so ganz wollte es ihm Benjamin aber nicht glauben. Falls Natascha aus dem Bergewagen gefallen war, müsste sie tot sein. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch atmete.
Benjamin warf einen Blick auf die Seilbahnstütze zurück. Die Metallkonstruktion war durch Sturm und Schneefall sicherlich rutschig, vielleicht sogar vereist. Wenn Natascha die gesamte Höhe abwärts geklettert war, musste es ein Albtraum gewesen sein. Benjamins Blick wanderte die Seile entlang und verhielt an der Kabine, die talabwärts hoch über dem Erdboden schwebte. Durch den Blizzard war die Gondel kaum mehr als ein verwaschener Schmutzfleck. Dies musste die Kabine sein, in der sich die letzten Passagiere befanden. Ob sie gesehen hatten, welches Drama sich in ihrer Nähe abspielte? Vielleicht lugten sie gerade aus den Fenstern, riefen um Hilfe; doch in diesem tobenden Sturm musste jeder Laut verschluckt werden. So wie Natascha nichts mehr mitbekam, waren auch die Fahrgäste von der Außenwelt abgeschnitten. Sie waren Gefangene einer winzigen Blechbüchse – und das mehr als einhundert Meter über dem Boden. Benjamin biss die Zähne zusammen und tastete nach Nataschas Hand, die kalt und kraftlos unter der Thermodecke ruhte.
Was für ein Scheißtag
, dachte er und wischte sich die breiige Masse halb geschmolzenen Schnees aus dem Gesicht.
Tirol, A12 bei Jenbach
Samstag, 6. Januar, 12:10 Uhr
Andreas lächelte.
Eigentlich war das absurd. Es gab nichts, aber auch gar nichts, was derzeit Erheiterung hervorrufen sollte. Die Autobahn war eine einzige Rutschpartie, die Sicht durch den starken Schneefall miserabel, und der Sturm tat sein Übriges. Wenn man das Wagnis beging, die vergangenen Stunden Revue passieren zu lassen, fanden sich noch viel weniger Gründe für seine unverhohlene Fröhlichkeit.
Dennoch vermochte Andreas das Grinsen nicht aus seinem Gesicht zu verbannen. Womöglich lag es an dem bisherigen Tagesablauf und war ein ungewohnter Ausdruck seiner inneren Unruhe. Aber daran glaubte er nicht. Tatsächlich empfand er keinerlei Nervosität, im Gegenteil: Er hatte sich schon lange nicht mehr so ausgeglichen gefühlt. Wäre ihm einer seiner Kollegen oder Bekannten begegnet, er müsste ihn zweifellos für nicht ganz dicht halten. Glücklicherweise war er allein im Wagen.
Andreas war überrascht, dass der Verkehr trotz der verheerenden Schäden durch den Sturm und der mittlerweile zentimeterhohen Schneelage auf den Straßen nicht zum Stillstand gekommen war. Es ging sogar erstaunlich gut voran; aber wohl nur deshalb, weil kaum Fahrzeuge unterwegs waren.
Andreas’ Grinsen wurde breiter.
Verrückt
, schoss es ihm durch den Kopf. Er erinnerte sich der morgendlichen Gewitterfront. Eine Gewitterfront, die ihm nicht fremd gewesen war. Er hatte sie so oft gesehen, ihre Urgewalt gespürt und den tobenden Elementen getrotzt. Gewissermaßen war sie ein Vertrauter, ein Freund, ein Seelengefährte.
Andreas rieb sich das Nasenbein.
Reiß dich zusammen!
, dachte er und wechselte auf die Überholspur.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 12:20 Uhr
Sie beschlossen, ein weiteres Mal sämtliche Mobiltelefone auf ihre Funktionstüchtigkeit zu überprüfen; doch blieb das Ergebnis dasselbe. Kein Handy bekam eine Verbindung, stets erschien eine Fehlermeldung.
Daraufhin wurden die verrücktesten Ideen geboren, wie man sich bemerkbar machen und Kontakt mit den Rettungskräften aufnehmen könnte. Raphael schlug vor, mit der Taschenlampe Morsezeichen zu senden. Matteo wandte ein, dass man das Licht untertags nicht wahrnehmen würde. Sandra bestand darauf, durch die Luke im Boden um Hilfe zu brüllen. Doris klingelten noch Minuten später die Ohren; Sandra besaß eine beeindruckende Stimmkraft, die es selbst mit der von
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