Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Januar, 16:35 Uhr
Stefanie war den Tränen nahe. Ihr kam vor, als hätte sie bei ihrem Gespräch mit Franz alles falsch gemacht. Für einen Augenblick war sie davon überzeugt gewesen, sie könne ihn täuschen, ihm etwas vorspielen. Aber hierfür war er zu gerissen. Er verstand sich besser auf das Entlarven von Falschheit und Betrug als kaum jemand anderer. Vermutlich hatte er sie sogleich durchschaut, auf Anhieb erkannt, dass ihre Selbstsicherheit nur eine Maske war.
Stefanie knirschte mit den Zähnen. Franz’ männliche Dominanz hatte sie mit dem ersten Treffen angezogen wie eine Motte das Licht. Er war so ganz anders als sie selbst, charismatisch, unnachgiebig und ohne jeden Mangel an Selbstbewusstsein. Zu spät hatte sie erkannt, dass sich sein überhöhtes Selbstvertrauen in einer gewinnorientierten Egozentrik offenbarte, die keinen gleichberechtigten Partner duldete.
Ernst Holger, der Kameramann, trat ihr entgegen.
„Wir bleiben über Nacht in Kitzbühel“, sagte Stefanie. „Ich bekomme heute noch die Daten für die Story. Das heißt, wir suchen uns erst mal eine Unterkunft – mit getrennten Zimmern natürlich.“
Ernst zog eine Schnute, verzichtete aber auf einen schlüpfrigen Kommentar. Gemeinsam traten sie aus der Schiebetür des Bürogebäudes in den Ozean wirbelnder Schneeflocken hinaus. Stefanie warf sich die Kapuze ihrer Jacke über und steuerte den Sendewagen an.
Es war definitiv ein Fehler gewesen hierherzukommen; und ein noch größerer, mit Franz zu sprechen. Die Erinnerungen stiegen in ihr auf wie giftige Nesselquallen in einem Badeparadies. An jenem Abend vor drei Jahren war etwas geschehen, wovon nicht einmal Franz eine Ahnung besaß. Etwas, das ihr Leben noch grundlegender verändert hatte als die Auseinandersetzung und ihre anschließende Trennung.
Sie drehte ihr Gesicht zur Seite, damit Ernst den feuchten Schimmer in ihren Augen nicht sehen konnte. Stefanie wusste, dass sie es nicht übertreiben durfte. Der Rückfall in eine Depression kam schneller, als jedes Antidepressivum Wirkung zeigte.
Sie sollte wirklich mit ihrem Bruder sprechen.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 16:50 Uhr
„Vorsichtig, sonst fällt er runter!“
Martin schob seinen Arm ein paar Zentimeter weiter aus der Bodenluke. In der Hand hielt er einen Schistecken und daran befestigt, durch den Sturm heftig hin und her schlenkernd, einen Schihelm; genauer gesagt: Doris’ Schihelm. Durch seine schlichte, kantenlose Form und die vier Haltebänder war er für die Aktion am tauglichsten gewesen. Doris hatte es wenig Überwindung gekostet, ihren Helm zu opfern. Sie hatte das sperrige, unbequeme Ding noch nie leiden können.
„Ich bin so weit“, sagte Martin gepresst.
Sebastian schlug mit der flachen Hand gegen die geschlossene Kabinentür. Der Schnee, der durch den heftigen Wind an der Außenseite der Gondel kleben geblieben war, bröckelte ab und fiel, wenigstens zum Teil, in den darunter befindlichen Schihelm. Ächzend zog Martin seine Hand in die Kabine zurück, gefolgt von dem Schistecken und ihrem improvisierten Auffangbehälter.
„Viel ist es nicht“, konstatierte Matteo.
„Immerhin“, meinte Rüdiger. „Wenn das geschmolzen ist, können wir sicher einen Floh darin ertränken.“
Michelle lachte leise, während Martin einen mürrischen Gesichtsausdruck aufsetzte. „Ist ganz schön anstrengend, den Stecken waagrecht zu halten“, sagte er. „Du kannst es gern selbst versuchen.“
„Okay“, erwiderte Rüdiger und krempelte sich in einer theatralischen Geste die Ärmel hoch. „Mister Universe zeigt euch jetzt, wie das geht.“
„Vorher füllen wir aber noch den Schnee um“, sagte Sebastian. „Nicht, dass deine geballte Manneskraft im entscheidenden Moment zur Neige geht.“
Rüdiger knurrte wie ein angriffslustiger Wolf und zeigte seinen mittelmäßig ausgeprägten Bizeps. „Nach mir bist du dran. Wir stoppen die Zeit. Mal sehen, wer länger durchhält.“
Doris schmunzelte, als sie die Männer in ihrem Treiben beobachtete. Sie verhielten sich wie Pubertierende. Womöglich war dies aber nur ihr Weg, mit Furcht und Unsicherheit umzugehen.
Doris warf ihrer Tochter einen Blick zu. Samantha verfolgte das Geschehen mit lebhaften Augen. Zwar presste sie weiterhin ihre Hände gegen den Bauch, es schien ihr aber schon besser zu gehen. Vorhin war sie aufgestanden und, was sehr viel verwunderlicher war, hatte angeboten, ihrer Mutter beim Reinigen der Bodenluke zu helfen.
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