Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
schritt in die angegebene Richtung, darauf bedacht, nicht durch übermäßige Nervosität aufzufallen. Er hatte überlegt, sich zunächst an den Arzt zu wenden, mit dem er am Telefon gesprochen hatte. Aber da er Natascha sofort sehen wollte, hätte dies nur eine unnötige Verzögerung bedeutet.
Benjamin kam an einem dicht bevölkerten Zimmer vorbei, in dem ein Mann mit vergipsten Arm gerade sagte: „… gesehen, wie die Stromleitungen gerissen sind! Igor hat nur gezittert, dieser Angsthase.“ Der Unbekannte lachte und deutete mit seinem gesunden Arm auf die mächtige Dogge zu seinen Füßen. Benjamin war überrascht, dass im Krankenhaus ein Hund geduldet wurde.
Am Ende des Ganges waren weniger Menschen unterwegs. Instinktiv steuerte er das letzte Zimmer an. Er war der einzige Besucher. In dem Raum gab es drei Betten, alle waren belegt. Auf dem ersten Lager ruhte eine ältere Frau, deren Kopf mit dicken Bandagen umwickelt war. Auf dem zweiten schlief eine Frau mit kurzen Locken, die leise schnarchte. Im dritten Bett lag Natascha. Sie saß halb aufrecht, hatte die Augen geöffnet – und erkannte Benjamin sofort.
Für einen Augenblick gab es nichts außer diesem Augenblick; ein Blickkontakt, der die Zeit dehnte wie klebrig süßer Honig im Getriebe eines Uhrwerks. Alles herum verschwamm in Gleichgültigkeit. Das satte Blaugrün von Nataschas Augen erglühte in hellem Licht, einem inneren, warmen Feuer, der heilenden Kraft von Vertrauen und Zuneigung.
Wortlos trat Benjamin an ihr Bett, ging auf die Knie, nahm ihre ausgestreckte, geschiente und verbundene Hand in die seine und hauchte einen zärtlichen Kuss auf ihren Daumen; der einzige Finger, der nicht von weißen Bandagen umwickelt war.
„Ich liebe dich“, sagte er.
Benjamin wusste es, im selben Moment, in dem er diese Worte aussprach. Womöglich hatte er es schon davor geahnt, aber nicht wahrhaben wollen. Bis über beide Ohren war er in Natascha verschossen; so hilflos verloren wie ein Nachtschmetterling unter der glimmenden Laterne.
Nataschas Augen füllten sich mit Tränen. Sie hob an, um etwas zu sagen, brach jedoch ab und schüttelte matt den Kopf. „Ich weiß nicht, ob du mich noch lieben kannst“, flüsterte sie schließlich, „wenn du siehst, was sie mit mir gemacht haben.“ Sie zauderte einen Moment, dann schob sie die Bettdecke beiseite und entblößte ihr linkes Bein.
Benjamin schluckte. Nataschas Bein war mit Gipsbandagen umwickelt, vom Oberschenkel bis zu der Fußsohle. Dennoch konnte man zweifelsfrei erkennen, dass die Gliedmaße nicht mehr vollständig war; besser gesagt der Fuß: statt der üblichen fünf, besaß sie nur noch drei Zehen.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 18:30 Uhr
„Was, ehrlich?“ Rüdiger lachte schallend. „Diese Geschichte hast du noch nie erzählt!“
„Ich dachte, jetzt ist der passende Zeitpunkt“, sagte Emma und grinste.
„Und er hat wirklich ‚Mama‘ gesagt, bevor er umgekippt ist?“, fragte Martin ungläubig.
„Ja.“ Emma nickte. „Ich bin bei der Blutabnahme vor ihm gesessen. Zuerst das ‚Mama‘, dann hat er die Augen verdreht und ist mir in die Arme gefallen.“
„Glücklicherweise war es keiner von meinen Ärzten“, knurrte Matteo. „Hätte ihn fristlos entlassen.“
„Na hör mal! Nur weil er sein eigenes Blut nicht sehen kann?“
„Was ist, wenn ihm das während einer Operation passiert? Eine kleine Unachtsamkeit, ein Schnitt in den Finger, schon sagt er ‚Mama‘ und fällt in Ohnmacht. Sehr motivierend für das restliche Team.“
„Also ich fand, es war eine lustige Geschichte“, meinte Sonja.
„Ich auch“, stimmte ihr Raphael zu. „Hat so richtig aus der Lethargie gerissen.“
„Meistens bietet das Krankenhaus nicht so viel Erheiterung“, gab Emma zu. „Hat jemand von euch schon mal länger auf einer Station verbringen müssen?“
„Ja“, sagte Raphael. „Bandscheibenvorfall. Ist vier Jahre her.“
„Bei mir war’s eine Magengeschichte“, kam von Doris.
„Blinddarm.“ Sandra verzog die Lippen. „Ich habe das Krankenhaus gehasst. Allein das Essen – einfach grauslich!“
„Zum Thema Essen fällt mir ein nettes Erlebnis ein“, begann Sonja. „Raphael und ich waren einmal …“
„Moment, Moment. Zuerst bin ich dran“, meinte Martin und hob in einer tadelnden Geste den Zeigefinger. „Das Kirchenleben bietet auch so manche Überraschung.“
„Aber jugendfrei bleiben, gell?“, sagte Rüdiger und zwinkerte Martin zu.
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