Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
wisst, besitze ich eine Apotheke in Meran. Früher habe ich noch öfter Dienste versehen. Das Erlebnis, von dem ich berichten will, ist einige Jahre her. Damals war ich allein im Nachtdienst. Ich glaube, es ging gegen zwei Uhr früh, als es an der Tür läutete. Apotheken mit Bereitschaftsdienst sind zu so später Stunde verschlossen und können nur von innen geöffnet werden. Wir hatten aber standardmäßige Videoüberwachung. Dadurch konnte ich feststellen, dass es sich um eine junge Frau handelte, vielleicht sechzehn Jahre alt. Sie wirkte verzweifelt und verstört, also habe ich sie hereingelassen. Ganz schüchtern ist sie zu mir getreten. Ihre Augen waren blutunterlaufen, ihr Blick von Tränen verschleiert. Und auf ihrer Stirn sind Schweißperlen gestanden. Ich habe sofort geahnt, dass Drogen im Spiel sind.“
Emma war irritiert. Diese Geschichte klang so gar nicht wie eine typische, von witzigen Kommentaren gespickte Rüdiger-Erzählung. Es war, als würde er plötzlich eine andere Seite von sich zeigen. Eine dunkle, unheimliche. Emma erschauderte.
„Das Mädchen hat ganz leise gesprochen. Zuerst habe ich sie gar nicht verstanden. Dann konnte ich zumindest ‚Pille danach‘ heraushören. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht so einfach ist.
Vikela
– also die Pille danach – ist in Italien rezeptpflichtig. Natürlich hatte sie kein Rezept dabei. Ich habe ihr gesagt, dass sie zu einem Arzt gehen soll und dass man die Pille auch noch am nächsten Tag nehmen kann. Sie fing an zu weinen, hat gemeint, dass sie keinen Sex haben wollte. Es war ein fremder Mann, der ihr Speed gegeben hat. Dann hat sie mir gesagt, dass sie erst dreizehn ist und es ihr erstes Mal war. Das hat mich, zugegeben, schockiert. Habe ihr noch mal dringend empfohlen, sich einem Arzt anzuvertrauen. Auch wegen der Gefahr einer sexuell übertragbaren Krankheit. Sie hat weiter gebettelt und gefleht und mir sogar einen Hunderteuroschein angeboten. Doch ich alter Trottel bin hart geblieben, habe nur stur den Kopf geschüttelt und mich in irgendwelche Vorschriften und gesetzliche Regelungen geflüchtet. Letztendlich hat sie die Apotheke heulend verlassen.“
Rüdiger schwieg einen Moment.
„Zwei Tage später hatte ich die nächtliche Begegnung bereits vergessen; so lange, bis ich die Zeitung aufschlug und darin ein Foto der Kleinen fand. Sie hat Selbstmord begangen. Ist von einer Brücke gesprungen. Wenige Minuten, nachdem sie meine Apotheke verlassen hat. Es war das letzte Mal, dass ich einen Nachtdienst gemacht habe.“
Stille.
„Hm“, meinte Martin schließlich und quälte sich zu einem Lächeln. „Wirklich nicht besonders lustig.“
Kitzbühel, Wohnung Gerbergasse
Samstag, 6. Januar, 20:00 Uhr
Franz blinzelte. Er war schon wieder eingenickt. Stöhnend hob er den Kopf und betrachtete sein durchnässtes Shirt. Offensichtlich hatte er es nicht einmal mehr geschafft, das Glas Wasser auf den Tisch zurückzustellen.
Er musste ins Bett. Umgehend.
Keuchend erhob er sich in eine sitzende Position und hockte für einen Moment am Rand des Sofas. Seine Schulter schmerzte noch immer. Hoffentlich war sie nicht gebrochen. Das Zimmer drehte sich vor seinen Augen. Zunächst im Uhrzeigersinn, dann dagegen. Kein gutes Zeichen.
Franz überlegte, ob er ein Medikament gegen Schwindel nehmen sollte. In Anbetracht seines heutigen Tablettenkonsums wäre das vermutlich keine gute Idee. Das beste Mittel gegen seinen momentanen Zustand war wohl ein ausreichend langer und erholsamer Schlummer.
Franz nahm das Funkgerät vom Tisch und schlurfte ins Schlafzimmer. Er hoffte, dass er nicht so erschöpft war, dass er das Läuten des Walkie-Talkies oder des Weckers neben seinem Bett überhören würde. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf der Bettkante nieder.
Zähneputzen
, durchfuhr es seine Gedanken.
Egal
, kam als Antwort.
In den vergangenen zehn Jahren war er niemals ohne Zähneputzen ins Bett gegangen. Auch das war kein gutes Zeichen.
Franz sank auf sein Bett und zog die Decke bis zur Nasenspitze. Vielleicht sah die Welt morgen ganz anders aus.
Hoffentlich.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 20:05 Uhr
Nach Rüdigers letzter Geschichte war es eine geraume Zeit so ruhig in der Kabine, dass sich das Heulen des Sturms in ein durchdringendes, verstörendes Gelächter verwandelte. Doris wurde von einer seltsamen Erregung erfasst, die sie kaum ruhig sitzen ließ. Rüdigers Erzählung war unter die Haut gegangen. Noch dazu hatte
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