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Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)

Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)

Titel: Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mortimer M. Müller
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sie an längst vergangenen Geschehnissen gerüttelt, an Erlebnissen aus ihrer eigenen Jugend. Auch sie besaß keine weiße Weste. Aber wer hatte die schon?
    Samantha war friedlich. Den bisherigen Erzählungen war sie mit mäßigem Interesse gefolgt. Nach wie vor presste sie ihre Hände gegen den Bauch. Doris konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Tochter noch Schmerzen verspürte. Dafür war ihr Gesichtsausdruck zu unbeschwert. Eigentlich müsste Samantha allmählich müde werden. Acht Uhr war gewöhnlich der Zeitpunkt, an dem sie ins Bett ging – oder ins Bett gehen sollte. Tatsächlich wurde es meist später, teilweise erheblich später. Nicht selten konnte Doris ihre Tochter erst gegen zehn in den Schlaf singen.
    Doris strich Samantha durch die kurzen, blonden Locken, was diese mit einem unwilligen Schnauben kommentierte. Weder ihre Ruhelosigkeit noch ihr vorlautes Mundwerk waren bislang zurückgekommen. Doris konnte sich nicht erinnern, dass ihre Tochter jemals so lange in diesem Zustand stimmloser Gleichgültigkeit verbracht hätte. Von ihrer Seite aus durfte Samanthas Verfassung gern länger anhalten.
    Doris wippte mit den Zehen. Etwas fehlte ihr. Sie musste nicht lange überlegen, was es war: Unterhaltung. Sie brauchte Ablenkung. Die Geschichten vorhin waren ein prima Weg gewesen. Weshalb also nicht fortsetzen?
    „Sebastian“, sagte Doris und durchbrach damit die allgemeine Schweigsamkeit. „Hättest du jetzt Lust, eine Geschichte zu erzählen?“
    *
    „Es ist ein eigenartiges Geräusch, wenn sich eine Lawine löst“, sagte Sebastian. „Ein dumpfes Ploppen, ein leises Schaben, das nur geschulte Ohren wahrnehmen können. Ich wende mich dem Gipfelgrat zu und sehe, dass der gesamte Hang in Bewegung geraten ist. Erwin und ich sind wie gelähmt. Ein Brausen und Rauschen erklingt, das immer mehr anschwillt. Die Lawine hält genau auf uns zu.“
    Sebastian legte eine Kunstpause ein und leckte über seine stattliche, sinnlich geschwungene Unterlippe. Sogleich erwachte ein erregendes Pulsieren zwischen Doris Beinen. Unfassbar, war der Typ heiß!
    „Erwin packt mich am Arm und brüllt: ‚Runter!‘ Dabei deutet er auf den Steilhang zu unseren Füßen. Tja, wir hatten nicht viele Alternativen. Die Lawine war zu breit, um seitlich zu entkommen. Also Kopf einziehen und ab durch die Mitte. Wir rasen auf unseren Schiern den Abhang hinunter, dicht gefolgt von einer weißen Wand, die mit jeder Sekunde größer und mächtiger wird. Erwin brüllt etwas, das ich nicht verstehe. Plötzlich ist er verschwunden. Ich wende mich um und sehe, dass er auf die Seite gefahren ist. Dort befindet sich ein kleines Waldstück, aber ich bin zu weit entfernt. Vor mir taucht ein großer, ansteigender Felsblock auf. Ich kann nicht mehr ausweichen, jage die Schräge empor – und springe; ich sage euch, das war der Sprung meines Lebens! Hätte jeden Schiflieger in ehrfürchtiges Staunen versetzt. Bin sogar mit den Beinen aufgekommen, aber dann habe ich das Gleichgewicht verloren. Die Lawine hat mich überrollt wie ein Güterzug. Ich glaube, ich habe ein Dutzend Saltos geschlagen. Aber ich hatte doppeltes Glück: Erstens kam ich an der Oberfläche zu liegen und zweitens blieb ich bei Bewusstsein. Sonst wäre dieses Abenteuer zweifellos anders ausgegangen. So konnte ich mich rasch befreien. Aber meine beiden Schi habe ich nie mehr wiedergefunden. Die liegen noch immer irgendwo unter dem Lawinenkegel auf der Schwarzkogeler Ostwand – wenige hundert Meter von uns entfernt.“
    „Spannende Geschichte“, meinte Doris und schenkte dem Mitarbeiter der Seilbahnen ein warmes Lächeln. „Hat mir gut gefallen. Aber wie wäre es mit einer lustigen Anekdote?“
    „Kein Problem“, sagte Sebastian und grinste. „Da wüsste ich schon was: Was, glaubt ihr, passiert, wenn das Zugseil eines Hundertfünfzig-Kilo-Mannes am steilsten Punkt des Schlepplifts reißt?“
    „Ein schreckliches Unglück?“, mutmaßte Rüdiger.
    Sebastian lachte. „Nein. Eher eine, wenigstens für die Zuseher, schrecklich erheiternde Bauchlagen-Talfahrt.“
    *
    Raphael registrierte es nur durch Zufall. Eigentlich war er durch Sebastians Erzählung abgelenkt, aber ein Lichtreflex an der Scheibe der Kabine ließ ihn den Blick zur Seite wenden. Sonja schob sich das letzte Stück Traubenzucker in den Mund. Sie hatte den Kopf abgewandt, damit es niemand mitbekam.
    Raphaels Herz zog sich zusammen. Wenn Sonja bereits jetzt ihre eiserne Reserve zu sich nahm, würde sie unmöglich

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