Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
bis morgen durchhalten. In einer Geste von Hilflosigkeit wollte er sie anschreien, ihr verbieten, den Traubenzucker bereits jetzt zu verzehren. Doch kannte sie ihren Körper am besten. Vielleicht war jetzt der ideale Zeitpunkt, den Insulinspiegel auszugleichen. Unter Umständen hatte sie die Aufnahme des Traubenzuckers genau auf ihren Metabolismus abgestimmt. Oder aber, ein längeres Warten wäre für sie unerträglich geworden.
Raphael biss die Zähne zusammen.
Kitzbühel, Hotel Resch
Samstag, 6. Januar, 20:45 Uhr
Stefanie überflog den von ihr verfassten Text, fügte einige Seilbahnfotos und den kurzen, von Holger gedrehten Videoclip hinzu. Kein Meisterwerk, aber für eine erste Berichterstattung musste es reichen. Morgen war, sofern es die Kapazitäten zuließen, eine Liveschaltung nach Kitzbühel geplant. Ihre erste seit mehr als einem halben Jahr.
Stefanies Herz klopfte. Wie rasch kam man – beziehungsweise frau – außer Übung? Sollte sie einen Text vorbereiten? Oder nur Stichwörter notieren? Wo sollte die Übertragung stattfinden? Im Inneren eines Gebäudes war das Licht berechenbar. Außerdem könnte sie sich gut in Szene setzen, ihre Haare stylen und elegante Kleidung anlegen. Andererseits bot der Schneesturm eine dramatische Szenerie, wodurch das Geschehen mitreißend und lebendig wirkte, selbst wenn die Rettung der Gondelinsassen völlig unspektakulär verlief.
Bei Gott, sie sollte unspektakulär verlaufen
, dachte Stefanie und faltete die Hände. Falls Sebastian etwas zustieß, würde sie sich das nie verzeihen. Obwohl sie keine Schuld an dem Unglück trug. Andererseits war sie es gewesen, die ihrem Bruder den Job als Mitarbeiter der Seilbahn GmbH vermittelt hatte. Mit tatkräftiger Unterstützung von Franz, zugegeben, aber dennoch war die Idee allein auf ihrem Mist gewachsen.
Schluss!
, befahl Stefanie und ordnete ihre Gedanken. Sie sandte das Dokument an die Redaktion und überflog die Berichte ihrer Kollegen. Sabine hatte einen hervorragenden Artikel über den Tornado bei Augsburg verfasst. Ihre Videoreportage bot die gesamte Bandbreite eines Hollywoodstreifens: scheinbare Idylle, pure Dramatik, dicke Tränen und natürlich ein Happy End. Roman hatte wie immer erstklassige Fotos der Sturmschäden und Stromausfälle geliefert. Ein kurzer, aber nett gestalteter Bericht des Mordfalls im Bayerischen Wald war von Simon erschienen. Margarete hatte es sich wie üblich nicht nehmen lassen, die esoterischen Hintergründe des Orkantiefs zu beleuchten, und Julia war mit Michael …
Stefanie stockte. Sie rief die vorherige Seite auf und betrachtete das Bild, das dem Artikel angefügt war. Zu erkennen waren zwei Männer, die mit ernster Miene vor einem baufälligen Gebäude im Wald standen. Einem der beiden war sie vor kaum zwei Stunden begegnet.
Ich wusste es
, schoss es Stefanie durch den Kopf.
Das wird nicht nur eine Story, das wird ein Erdbeben!
Kitzbühel, Altstadt
Samstag, 6. Januar, 20:50 Uhr
„Ah, da seid’s ja!“ Eduard streckte sich im Fahrersitz und gähnte ausgiebig. „Oiso, bei uns woar nix los.“
Bei uns auch nicht
, dachte Bernhard resigniert. Nicht nur, dass ihre Hotelbefragungen rein gar nichts erbracht hatten – bis auf eine Rezeptionistin, der
vielleicht
jemand mit blauen Augen aufgefallen war. Nein, zudem hatte das Zusammentreffen mit der Reporterin zu der Erkenntnis geführt, dass ihre Ermittlungen zur Presse durchgedrungen waren. Dies bedeutete, sie mussten von nun an besonders vorsichtig sein. Das Schlimmste, was ihnen passieren konnte, waren spekulative
Breaking News
auf irgendeinem Fernsehkanal. Falls der Mörder davon erfuhr, war er schneller außer Landes, als ein Porsche von null auf hundert beschleunigen konnte.
„Wie ist das mit der Kamera“, wandte sich Bernhard an Arthur. „Ist es möglich, dass wir die Daten auch in einem Hotelzimmer empfangen?“
„Natürlich. Die Kamera besitzt einen Signalverstärker, dreibis vierhundert Meter sollten möglich sein. Der Videostream ist verschlüsselt, die Codes kann ich euch gern übermitteln.“
„Fein.“ Bernhard blickte zu Anna hinüber. „Ich glaube, es ist angenehmer, wenn wir drinnen im Warmen sitzen. Was meinst du?“
„Einverstanden“, erwiderte Anna. „Wie wäre es mit dem Hotel Goldener Hirsch. Das ist gleich um die Ecke.“
„Ist das nicht ein Fünfsternehotel? Sicher sehr teuer.“
„Dann sind wenigstens Zimmer frei. Außerdem wären wir im Fall des Falles schnell beim
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