Kälteeinbruch (German Edition)
Handy meldete den Eingang einer SMS . Sie kam von Sofie Prytz. Er überflog die Nachricht rasch und informierte Kval über ihren Inhalt: Viggo Holms Kellertür war mit einem Dietrich geöffnet worden.
Kapitel 13
Nils Jahr parkte zwischen zwei anderen Autos am Straßenrand vor der Bibliothek im Zentrum von Fredrikstad. Er machte den Reißverschluss seiner teuren braunen Funktionsjacke von Bergans zu und stieg aus. Zog die Kapuze über den Kopf. Warf ein paar Münzen in den Parkautomaten und legte die Quittung aufs Armaturenbrett. Allein in diesen knapp dreißig Sekunden, die er sich außerhalb seines Wagens aufgehalten hatte, war seine braune Jacke ziemlich weiß geworden. Auf dem Treppenabsatz unter dem Vordach der Bibliothek hatten sich vier Personen eingefunden und warteten darauf, dass das fürchterliche Schneetreiben nachließ. Sie starrten nahezu ungläubig auf die Flocken, als erlebten sie zum ersten Mal derart heftigen Schneefall. Er sah zu ihnen hinüber und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ihn kümmerte der Winter nicht. Seinetwegen konnte es das ganze Jahr über regnen und schneien.
Er hätte zu dem gelben Haus an der Ecke gegenüber der Bibliothek rennen können, doch stattdessen ging er langsam den Gehweg entlang. Die schweren nassen Schneeflocken klatschten ihm ins Gesicht.
Er hatte sich vorbereitet. Ob er aber auch bereit war, würde er erst in ein paar Minuten wissen. Auch wenn er im Moment wild entschlossen war, wusste er, dass es schwierig werden könnte, wenn er erst einmal drinnen in der Praxis saß. Manchmal blockierte er völlig. Dann konnte er sich überhaupt nicht mehr an seine Jugend erinnern. Alles war wie ausgelöscht. Als wäre er über Nacht von einem dreizehnjährigen Jungen zu einem Erwachsenen geworden.
Hundert Meter weiter vorn konnte er sehen, wie sich die Tür des gelben Hauses öffnete. Eine junge Frau trat heraus. Sie lief los, machte nach drei Schritten jedoch wieder kehrt und blieb unter dem Vordach stehen. Nils kannte sie. Sie versuchte jedes Mal, mit ihm ein Gespräch anzufangen. Meistens tat er so, als würde er sie nicht sehen, doch das war heute nicht möglich. Er konnte jetzt an nichts anderes mehr denken. Bei ihrem Anblick wurde ihm einfach nur übel. Unreine Haut. Fettige Haare. Hässlich. Nein – extrem hässlich. So abstoßend, dass das allein schon Grund genug wäre, hierherzukommen. Er hatte eine Vorliebe für hübsche Frauen mit mangelndem Selbstbewusstsein. Aber doch nicht für dieses Wrack, das dort unter dem Vordach stand und den Oberkörper vor- und zurückbewegte.
Nicht einmal auf allen vieren und mit einer Tüte über dem Kopf wäre sie attraktiv.
Er hoffte, sie würde dort nicht lange stehen bleiben, denn das Fenster im ersten Stock stand oft auf Kipp. Und wenn draußen nicht viel Verkehr herrschte und es ansonsten ruhig war, konnte man durchaus lauschen.
Das wusste er nur zu gut.
Obwohl seine Hände in den Jackentaschen steckten, waren sie triefnass. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn mischten sich mit dem Schnee, der auf seinem Gesicht sofort zu Wasser schmolz und die Wangen herunterlief. Wenn er mit der Zunge die Lippen berührte, schmeckten sie salzig. Sein Körper befand sich in völliger Auflösung. Als wäre jede einzelne Schweißdrüse kurz vorm Platzen. Auch bei früheren Sitzungen war er nervös gewesen, aber nicht so sehr wie heute.
Noch fünfzehn Schritte bis zum Haus. Er blieb stehen. Rührte sich nicht und ließ sich von den schweren Flocken bombardieren, die vom Himmel fielen. Er drehte sich um und sah zu seinem Wagen. Noch konnte er umkehren. Ein Polizeiauto kam ihm mit heulenden Sirenen und Blaulicht entgegen, schnitt die Kurve und verschwand in Richtung Kråkerøy-Brücke.
Wird schon schiefgehen, dachte er. Es wird dir guttun. Richtig gut. Davon war er überzeugt. Vielleicht wusste der andere auch schon Bescheid. Auf jeden Fall wäre es eine Erleichterung, darüber zu sprechen. Seine innersten Gefühle.
Denn jetzt war er tot.
Als er den geschotterten Vorplatz betrat, sah sie sofort auf.
«Was für ein Wetter», rief sie aus.
Er verlangsamte seine Schritte nicht. Ging im selben Tempo weiter. Vermied jegliche Bewegung, die den Eindruck vermitteln könnte, er sei an einem Gespräch mit ihr interessiert. Würdigte sie keines Blickes. Sie konnte ihn nicht aufhalten. Er musste so vieles verarbeiten. Und er war sich nicht sicher, ob es ihm gelingen würde, obwohl er mehr als ein halbes Leben auf diesen Tag gewartet
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