Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
nicht mehr, ob dieses Bild von ihr auf dem Hofplatz eine Erinnerung oder ein Traum war. Vielleicht spielte das auch keine Rolle.
Sie starb, drei Tage nachdem sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Er saß die ganze Zeit an ihrem Bett. Das Pflegepersonal hatte ihm angeboten, sich zwischendurch in einem unbelegten Krankenzimmer etwas zur Ruhe zu legen, falls er wollte, doch er lehnte höflich ab, denn er konnte sich nicht vorstellen, seine Mutter allein zu lassen. Die Ärzte hatten gesagt, sie könne jederzeit sterben. Sie kam noch ein paarmal wieder zu Bewusstsein, war aber im Fieberwahn und erkannte ihn nicht. Er versuchte, mit ihr zu sprechen, vergeblich.
So vergingen die Stunden, eine nach der anderen, während das Leben seiner Mutter langsam erlosch. Er war erfüllt von Erinnerungen aus der Kindheit, in der seine Mutter in einer wundersam kleinen Welt immer gegenwärtig gewesen war, eine wachsame Beschützerin, eine milde Ermahnerin zu guten Sitten und eine liebe Freundin.
Kurz vor dem Ende schien sie noch einmal zu sich zu kommen. Sie lächelte ihn an.
»Erlendur«, flüsterte sie.
Er hielt ihre Hand.
»Ich bin bei dir«, sagte er.
»Erlendur?«
»Ja.«
»Hast du deinen Bruder gefunden?«
Dreizehn
Kurz vor Beginn der Vorstellung parkte Erlendur seinen Wagen hinter dem Theater. Er wusste, dass er sehr spät dran war, aber er wollte das unbedingt noch hinter sich bringen, bevor er nach Hause fuhr. Ein freundlicher Hausmeister brachte ihn zu den Schauspielergarderoben, war aber ziemlich nervös und sagte, es bliebe nur ganz wenig Zeit. Erlendur versuchte, ihn zu beruhigen, indem er sagte, er habe sich angemeldet und Orri erwarte ihn. Es würde auch nicht lange dauern.
Hinter der Bühne ging alles drunter und drüber. Die Schauspieler liefen in voller Kostümierung durch die Gänge, einige waren noch in der Maske. Das Theaterpersonal lief geschäftig hin und her. Im Foyer hatten sich bisher nicht mehr als eine Handvoll Besucher eingefunden. Erlendur wusste, dass Othello auf dem Spielplan stand. Valgerður hatte ihm erzählt, dass die Aufführung laut den Theaterkritiken, die sie gelesen hatte, zwar ehrgeizig und bis zu einem gewissen Grad originell, aber leider unverständlich war.
Orri Fjeldsted war allein in seiner Garderobe und ging seinen Text noch einmal durch, als Erlendur endlich zu ihm vorgedrungen war. Orri spielte den Jago, und sein Kostüm bestand in einem altmodischen Anzug aus den Vierzigerjahren, da der Regisseur, ein ambitionierter junger Mann, der laut Valgerðurs Auskünften gerade von seiner Ausbildung in Italien zurückgekehrt war, Shakespeares Drama ins Reykjavík der Kriegsjahre verlegt hatte. Der schwarze Othello war Oberst auf dem amerikanischen Stützpunkt in Keflavík. Desdemona war seine Freundin aus Reykjavík, eines von den vielen Ami-Flittchen, wie sie genannt wurden. Der Oberst war nach irgendeinem Feldzug innerhalb Europas nach Island versetzt worden. Er war seiner Desdemona begegnet, und Jago schmiedete tödliche Pläne.
»Bist du der von der Kriminalpolizei?«, fragte Orri, als er die Tür öffnete. »Hättest du nicht einen besseren Zeitpunkt wählen können?«
»Entschuldige bitte, ich wollte früher hier sein. Aber es dauert gar nicht lange.«
»Du bist zumindest keiner von diesen beknackten Kritikern«, erklärte der Schauspieler. Der kleine, schlanke Mann wirkte beinahe schmächtig und war stark geschminkt. Ein affektiertes Clark-Gable-Bärtchen klebte auf seiner Oberlippe, und das Haar war mit viel Brillantine zurückgekämmt worden. Er erinnerte Erlendur an einen Gangster aus einem Hollywood-Film.
»Liest du Theaterkritiken?«, fragte Orri Fjeldsted. Trotz seiner geringen Körpergröße hatte er eine sonore Stimme.
»Nie«, entgegnete Erlendur.
»Der Quatsch, den diese Typen über die Aufführung geschrieben haben, ist nicht zu überbieten«, erklärte Orri, und Erlendur dachte an das, was Valgerður ihm über die Kritiken an Orris schauspielerischer Leistung als Jago gesagt hatte, nämlich, dass er auf der Bühne völlig desorientiert wirkte.
»Ich habe das nicht mitverfolgt«, sagte Erlendur.
»Und du hast die Aufführung nicht gesehen?«
»Ich gehe sehr selten ins Theater.«
»Diese verdammten Ignoranten! Diese blöden Hunde! Glaubst du, dass es Spaß macht, sich mit so etwas herumschlagen zu müssen?«
»Ja, nein, das … Sie sind …«
»Jahraus, jahrein saugen die sich denselben Mist aus den Fingern – und immer ohne die geringste Ahnung
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