Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
noch eine Weile um Hilfe rufen, aber es war zu spät.«
»Erinnerst du dich …?«
»Wir haben mit dem Händler gesprochen«, sagte Níels. »Oder wahrscheinlich hat Guðfinnur das getan. Er sprach mit jemandem bei der Firma, die diese Außenbordmotoren verkaufte.«
»Ja, das steht im Protokoll.«
»Er hat gesagt, dass sich eine solche Schraube gar nicht so leicht löst. Dazu bräuchte es ganz schön Kraft.«
»Konnte der Motor auf Grund gestoßen sein?«
»Darauf hat nichts hingedeutet. Die Frau hat aber ausgesagt, dass ihr Mann tags zuvor am Motor herumgefummelt hat. Sie hat ihn aber nicht danach gefragt und hatte keine Ahnung, was er da gemacht hat. Kann sein, dass er dabei aus Versehen die Schraube gelockert hat.«
»Ihr Mann?«
»Ja.«
Erlendur erinnerte sich, dass Ingvar ihm gesagt hatte, dass Magnús sich nie für technische Dinge interessiert hatte. »Weißt du noch, wie das Mädchen reagiert hat?«, fragte er.
»Die war doch bloß zehn Jahre alt oder so?«
»Ja.«
»Sie war bestimmt wie alle Kinder, die einen Schock erleiden. Sie klammerte sich an ihre Mutter. Wich ihr die ganze Zeit nicht von der Seite.«
»Aus der Akte geht nicht hervor, dass ihr mit ihr gesprochen habt.«
»Das haben wir nicht getan, oder es ist nichts dabei herausgekommen. Wir sahen keinen Grund dazu. Kinder sind nicht die zuverlässigsten Zeugen.«
Erlendur wollte widersprechen, wurde aber von zwei nicht uniformierten Poizeiangehörigen gestört, die in die Kantine kamen und Níels von Weitem begrüßten.
»Was steckt da bei dir dahinter, lieber Kollege?«, fragte Níels. »Worum geht es eigentlich?«
»Achluophobie«, sagte Erlendur, »oder ganz normal ausgedrückt: Angst vor der Dunkelheit.«
Vierzehn
Marías Freundin Karen nahm Erlendur an der Tür in Empfang und führte ihn in ihre geräumige Wohnung in einem der Mehrfamilienhäuser im Melar-Viertel. Er hatte sie nach ihrem Gespräch im Hauptdezernat angerufen, und sie hatte ihm die Namen von einigen Bekannten von María genannt, von denen er vielleicht mehr erfahren konnte. Sie hatten sich auch über die Freundschaft zwischen ihr und María unterhalten. Im Alter von elf Jahren hatten sie sich angefreundet, als sie beide nach einem Schulwechsel in einer neuen Klasse landeten, wo sie nebeneinandergesetzt wurden. Leonóra hatte den Schulwechsel ihrer Tochter veranlasst, weil sie mit der Schulleitung und den Lehrern an Marías alter Schule unzufrieden gewesen war. María war dort von ihren Mitschülern gehänselt worden. Auf Marías eigene Wünsche in dieser Angelegenheit wurde nicht weiter Rücksicht genommen, sie musste versuchen, sich in einer neuen Schule mit unbekannten Kindern einzuleben. Karen war mit ihren Eltern gerade erst in dieses Viertel gezogen und kannte niemanden. Leonóra brachte María jeden Morgen im Auto zur Schule und holte sie nachmittags ab. Einmal hatte María Karen zu sich nach Hause eingeladen. Leonóra war sehr froh über die neue Freundin ihrer Tochter, und unter ihrer Obhut wurde die Freundschaft zwischen den beiden Mädchen bald sehr eng.
»Ihre Mutter war im Grunde genommen ziemlich aufdringlich«, sagte Karen zu Erlendur. »Sie hat uns beim Ballett angemeldet, obwohl wir beide es hassten. Sie ging mit uns ins Kino, und sie sorgte dafür, dass ich bei María in Grafarvogur übernachten durfte. Mama gestattete mir nicht, bei anderen Freundinnen zu übernachten, nur bei María. Leonóra besorgte die Kinokarten und machte Popcorn für uns, wenn wir uns etwas im Fernsehen anschauten. Kaum, dass wir alleine zusammen spielen durften. Leonóra war sehr nett, du darfst mich nicht missverstehen, aber manchmal war es schon ein bisschen zu viel des Guten. Sie kümmerte sich unglaublich intensiv um María. Ich fand zwar, dass María sehr verwöhnt wurde, aber sie war nie eingebildet, sondern immer bescheiden, folgsam und lieb, das war ihr Naturell.«
Die Freundschaft zwischen Karen und María wurde von Jahr zu Jahr enger. Sie machten gemeinsam das Abitur, und dann ging Karen zur Pädagogischen Hochschule, während María Geschichte studierte. Sie reisten zusammen ins Ausland, mieteten sich öfter mal gemeinsam ein Wochenendhäuschen in Island und verstanden sich prima.
Erlendur begriff langsam immer besser, weshalb Karen nach dem Selbstmord ihrer besten Freundin zu ihm ins Dezernat gekommen war und behauptet hatte, dass etwas anderes dahinterstecken müsse als abgrundtiefe Verzweiflung.
»Hast du dir die Kassette mit der Séance angehört?«,
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