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Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Titel: Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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dich auch.«
    Erlendur zuckte die Achseln.
    »Das ist längst passé. Ich habe diesen Bericht wahrscheinlich wegen des Andenkens an meine Mutter behalten. Sie war überhaupt nicht damit einverstanden.«
    »Stimmte das denn? War sie dagegen, dass ihr mit eurem Vater losgezogen seid?«
    »Sie war dagegen. Aber sie hat ihm nicht die Schuld daran gegeben, wie es gekommen ist, jedenfalls nicht, nachdem einige Zeit verstrichen war. Sie war zwar vergrämt und verbittert, wusste aber immer, dass es nicht um Schuld oder Schuldlosigkeit ging. Es ging darum zu überleben, sich im harten Kampf mit der Natur zu behaupten. Dieser Gang in die Berge war einfach notwendig. Niemand konnte vorhersehen, dass er so gefährlich werden würde.«
    »Was war damals mit deinem Vater? Weshalb hat er nichts unternommen?«
    »Das habe ich im Grunde genommen nie verstanden. Als er nach diesen furchtbaren Strapazen wieder zurück ins Tal gefunden hatte, stand er völlig unter Schock, da er überzeugt war, dass Bergur und ich tot sein mussten. Bei ihm schien jeglicher Lebenswille erloschen zu sein. Er selbst war nur mit knapper Not mit dem Leben davongekommen, nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten. Deine Großmutter sagte mir, dass er ganz einfach aufgegeben hat, als es mit Einbruch der Nacht dunkel wurde und das Unwetter noch heftiger tobte. Er blieb die ganze Zeit im Schlafzimmer, hockte auf der Bettkante und kümmerte sich nicht darum, was um ihn herum vorging. Er war natürlich selbst auch am Ende seiner Kräfte und hatte Erfrierungen davongetragen. Als er erfuhr, dass ich gerettet worden war, hat er sich ein wenig erholt. Ich bin zu ihm gegangen, und er hat mich in seine Arme geschlossen.«
    »Darüber muss er doch froh gewesen sein.«
    »Das war er bestimmt, aber ich … Ich wurde von einem seltsamen Schuldgefühl überfallen. Ich verstand nicht, weshalb ich gerettet worden war und Bergur umkommen musste. Letzten Endes begreife ich das immer noch nicht. Ich hatte das Gefühl, dass es mit mir zu tun hatte, dass es meine Schuld war. Nach und nach habe ich mich mit diesen meinen Gedanken abgesondert. Eigen und teilnahmslos. Vielleicht stimmt diese Beschreibung letzten Endes doch.«
    Sie saßen eine ganze Weile schweigend da, bis Erlendur das Buch weglegte.
    »Deine Großmutter hat das Haus in bestem Zustand hinterlassen, als wir weggingen. Ich habe Ödhöfe gesehen, wo es so aussah, als hätten die Leute das Haus Hals über Kopf verlassen und keinen Blick mehr zurückgeworfen. Teller auf den Tischen, Geschirr in den Schränken, die Betten in den Zimmern nicht gemacht. Deine Großmutter hat das Haus aufgeräumt, und es blieb nichts zurück, als wir nach Reykjavík zogen. Einiges von den Möbeln hat sie mitgenommen, anderes verschenkt. Niemand hatte ein Interesse daran, dort zu leben, nachdem wir gegangen waren. Unser Heim wurde zu einem verlassenen Hof, und das war ein merkwürdiges Gefühl. Am letzten Tag sind wir von einem Zimmer ins andere gegangen, und ich habe diese seltsame Leere gespürt, die ich seitdem nie wieder losgeworden bin. Es war, als würden wir unser Leben da an diesem Ort zurücklassen, hinter dieser alten Tür und den leeren Fenstern. Als hätten wir kein Leben mehr, als hätten irgendwelche Mächte es uns genommen.«
    »Genau, wie sie euch Bergur genommen haben?«
    »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte Ruhe vor ihm finden. Dass ein ganzer Tag vergeht, ohne dass ich an ihn denken muss.«
    »Aber das geschieht nicht?«
    »Nein. Das geschieht nicht.«

Einundzwanzig
    Erlendur saß vor der Kirche in seinem Auto, rauchte eine Zigarette und dachte über das nach, was man Zufall nannte. Es hatte ihn schon immer fasziniert, wie Zufälle über das Schicksal von Menschen entscheiden konnten, über Leben und Tod. Er kannte solche Zufälle aus seiner Arbeit. Mehr als einmal war er mit Tatorten konfrontiert gewesen, an denen ein sinnloser Mord verübt worden war, ohne Vorwarnung und ohne dass es eine Verbindung zwischen Mörder und Opfer gegeben hatte.
    Eines der erschütterndsten Beispiele für derartige Zufälle war eine Frau, die auf dem Heimweg von einem Supermarkt in einem der Außenviertel der Stadt ermordet worden war. Der Laden war damals einer der ganz wenigen gewesen, die abends geöffnet hatten. Sie begegnete zwei Männern, die für die Polizei keine Unbekannten waren. Die beiden wollten ihr die Tasche entreißen, aber sie ließ sie aus einem merkwürdigen Trotz heraus nicht los. Der eine Mann war bereits mehrfach

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