Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
vorbestraft. Er hatte ein kleines Brecheisen dabei und versetzte ihr zwei schwere Hiebe auf den Kopf. Sie war bereits tot, als sie in die Ambulanz eingeliefert wurde.
»Weshalb sie?«, hatte Erlendur sich an jenem Sommerabend vor zwanzig Jahren gefragt, als er vor der Leiche der Frau stand.
Er wusste, dass die beiden Männer, die sie überfallen hatten, wandelnde Zeitbomben waren. Seiner Meinung nach war es nur noch eine Frage der Zeit, wann sie ein schweres Verbrechen verüben würden. Die Begegnung mit dieser Frau war ein absoluter Zufall. Es hätte genauso gut jemand anderen an diesem Abend oder eine Woche, einen Monat oder ein Jahr später treffen können. Weshalb sie, an dem Abend, zu dieser Zeit? Und weshalb hatte sie ausgerechnet so reagiert, als sie diesen Männern gegenüberstand? Wann begann diese Kette der Ereignisse, die mit einem Mord endete?, fragte er sich. Es ging ihm nicht darum, die Täter von ihrer Verantwortung zu befreien, es ging ihm um ein Leben, das in einer Blutlache auf einem Bürgersteig in Reykjavík geendet hatte.
Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Frau vom Land kam und seit sieben Jahren in Reykjavík lebte. Der Grund, weshalb sie mit ihrem Ehemann und zwei Töchtern aus dem heimatlichen Fischerdorf weggezogen war, waren die Entlassungen in den Fischverarbeitungsbetrieben. Der Trawler mit der Fangquote war verkauft worden, und der Krabbenfang war weit unter den Erwartungen geblieben. Vielleicht hatte ihr Schicksal ab diesem Zeitpunkt seinen Lauf genommen. Mehr als eine Wohnung in einem der Außenviertel von Reykjavík war nicht drin. Sie hätte gern etwas näher zur Stadtmitte gewohnt, dort waren Immobilien jedoch erheblich teurer. Eine weitere Weiche war gestellt.
Der Mann bekam Arbeit auf dem Bau und sie eine Stelle als Telefonistin bei einem großen Unternehmen. Als die Firma ihren Hauptsitz verlegte, wurde es sehr schwierig für sie, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu kommen, deswegen kündigte sie. Anschließend bekam sie eine Stellung als Aufsichtsperson in der Grundschule des Viertels, und ihr gefiel diese Arbeit. Sie mochte die Kinder, und die Kinder mochten sie. Sie ging jeden Morgen zu Fuß zu der Schule und genoss es, Bewegung zu haben. Allabendlich schleifte sie ihren Mann mit, um einen Spaziergang durch das Viertel zu machen, der nur bei ganz schlechtem Wetter ausfiel. Die Töchter wuchsen heran, der zwanzigste Geburtstag der Ältesten näherte sich.
Die Frist lief ab. An dem schicksalhaften Abend war die ganze Familie zu Hause, und die älteste Tochter bat ihre Mutter um selbst gemachtes Eis. Damit kam die folgenschwere Kette der Ereignisse in Gang, es fehlten nämlich Sahne und auch noch ein paar andere Kleinigkeiten. Die Mutter ging zum Geschäft.
Die jüngere Tochter bot ihr an, für sie zu gehen, aber darauf ging sie nicht ein, denn sie wollte den Einkauf gern mit dem Abendspaziergang kombinieren und sah zu ihrem Mann hinüber. Der hatte aber keine Lust, denn im isländischen Fernsehen lief eine Serie, in der Leute vom Land interviewt wurden, und die wollte er nicht verpassen, weil manchmal wirklich komische Käuze darunter waren. Vielleicht war das auch einer dieser Zufälle. Wenn diese Sendung nicht im Programm gewesen wäre, hätte der Mann sie begleitet.
Die Mutter ging zur Tür hinaus und kehrte nie wieder zurück.
Der Mann, der ihr die tödlichen Hiebe versetzte, erklärte, sie habe die Handtasche trotz seiner Drohungen um keinen Preis loslassen wollen. Es stellte sich heraus, dass die Frau tags zuvor wegen des Geburtstagsgeschenks für ihre Tochter eine beträchtliche Summe von ihrem Konto abgehoben hatte, und das Geld war in ihrem Portemonnaie. Normalerweise hatte sie nie viel Bargeld bei sich.
Auch das war ein Zufall.
Mit dem Gedanken an das Geburtstagsgeschenk für ihre Tochter kam sie an einem Sommerabend in Reykjavík ums Leben; sie hatte sich nichts anderes zuschulden kommen lassen, als ihr normales Leben zu leben und sich liebevoll um ihre Familie zu kümmern.
Erlendur drückte die Zigarette aus und stieg aus dem Auto. Er sah zu der Kirche hoch, einem kalten, grauen Steinklotz, und dachte bei sich, dass der Architekt Atheist sein musste. Zumindest konnte er nicht sehen, dass dieses Gebäude zur Ehre Gottes errichtet worden war, sondern eher zu Ehren der Firma, die den Beton dafür gemischt hatte.
Die Pastorin Eyvör saß an ihrem Schreibtisch und telefonierte. Sie bedeutete ihm, Platz zu nehmen, und er wartete
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