Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
konnte. Der schnellste von den Männern wurde losgeschickt, um heiße Milch zu holen. Die Männer wechselten sich beim Tragen ab, als sie den Jungen ins Tal transportierten. Daheim in Bakkaselshjáleiga war der Arzt zur Stelle, der den Jungen untersuchte und Anweisungen gab, wie ihm Wärme zuzuführen war. Er verarztete die Erfrierungen, und allmählich kam der Junge wieder zu sich, war aber augenscheinlich am Ende seiner Kräfte. Viel hätte nicht gefehlt, dass er dort oben den kalten Tod gefunden hätte.
Die Suche in der Umgebung, wo der ältere Bruder gefunden worden war, wurde mit verdoppelter Intensität weitergeführt, aber ohne Erfolg. Es hatte den Anschein, als sei er vom Sturm weitergetrieben worden in Richtung Þverá-Tal und zum Harðskafi-Massiv hinüber. Man erweiterte daraufhin das abzusuchende Gelände. Von Bakkaselshjáleiga traf die Nachricht ein, dass der ältere Junge nichts darüber wusste, was aus seinem Bruder geworden war. Seiner Aussage nach waren sie noch eine ganze Weile beieinander gewesen, aber dann hatte er seinen Bruder auf einmal im Schneetreiben aus den Augen verloren. Er sagte, er habe nach ihm gesucht und nach ihm gerufen, bis er völlig erschöpft war und immer wieder vornüber in den Schnee fiel. Von dem Jungen hieß es, er sei untröstlich und zu Tode betrübt. Er drängte darauf, wieder hinauf in die Berge zu gehen und aufs Neue nach seinem Bruder zu suchen, und der Arzt musste ihm schließlich ein Beruhigungsmittel geben.
Bei Anbruch des Abends verschlechterte sich das Wetter wieder, sodass die Suchtrupps hinunter ins Tal mussten. In Eskifjörður wurde eine Suchzentrale eingerichtet. Am nächsten Morgen machten sich bei Tagesanbruch erneut viele Menschen auf die Suche, sowohl oben in den Bergen als auch im Þverá-Tal und an den Hängen der umliegenden Berge. Man versuchte, sich darüber klar zu werden, in welche Richtung der Wind den Jungen getrieben haben konnte, nachdem er von seinem Bruder getrennt worden war. Die Suche in diesen Gebieten war erfolglos und wurde auf das Gelände nördlich und südlich davon ausgeweitet, und damit verging der ganze Tag bis zum Abend, ohne dass der Junge gefunden wurde.
Die organisierte Suche wurde über mehr als eine Woche fortgesetzt, doch um es kurz zu machen: Der Junge wurde nie gefunden. Es gab eine Reihe von Spekulationen darüber, was aus ihm geworden sein könnte, denn es hatte ganz den Anschein, als seien seine sterblichen Überreste vom Erdboden verschluckt worden. Einige waren der Meinung, er müsse in der Eskifjarðará ertrunken und mit der Strömung ins Meer getrieben worden sein. Andere nahmen an, er sei von dem Unwetter noch viel höher in die Berge getrieben worden, als man sich bisher vorgestellt hatte. Wieder andere meinten, er müsse in den Sumpfgebieten unten am Ende des Fjordes umgekommen sein, sei also bereits auf dem Heimweg gewesen.
Es war offensichtlich, wie furchtbar das, was seinen Söhnen zugestoßen war, auf Sveinn Erlendsson lastete. Später kam auch das Gerücht auf, dass seine Frau Áslaug ihren Mann an diesem Tag davor gewarnt hatte, beide Jungen in die Berge mitzunehmen, aber er hatte ihre Worte in den Wind geschlagen.
Der ältere Bruder erholte sich von seinen Erfrierungen, aber alle fanden ihn seit dieser Zeit eigen und teilnahmslos. Es hieß, dass er immer wieder nach den sterblichen Überresten seines Bruders gesucht hat, solange die Familie noch auf dem Hof lebte.
Zwei Jahre nach diesen Ereignissen zogen Sveinn und Áslaug fort und gingen nach Reykjavík. Dadurch wurde, wie eingangs erwähnt, Bakkaselshjáleiga zum Ödhof.
Erlendur schloss das Buch und strich mit der Hand über den abgegriffenen Buchdeckel. Eva Lind saß ihm stumm auf dem Sofa gegenüber. Es verging geraume Zeit, bevor sie ihre Hand nach der Zigarettenschachtel ausstreckte.
»Eigen und irgendwie teilnahmslos?«, fragte sie.
»Der alte Dagbjartur hat auf niemanden Rücksicht genommen«, sagte Erlendur. »Er hätte es gut bleiben lassen können, die Dinge so direkt beim Namen zu nennen. Er konnte überhaupt nicht wissen, ob ich eigen und teilnahmslos war, er hat mich nämlich nie getroffen. Und deine Großmutter und deinen Großvater hat er kaum gekannt. Sein ganzes Wissen hatte er von denen, die an der Suche teilgenommen hatten. Gerüchte und Klatschgeschichten, die einem zu Ohren kommen, darf man nicht für bare Münze nehmen, und sie gehören nicht gedruckt. Er hat meine Mutter völlig unnötigerweise tief verletzt.«
»Und
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