Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
erzählte sie Baldvin, was sich bei der Séance abgespielt hatte. Sie befand sich in einer erregten Gemütsverfassung und sagte, derartig klare Botschaften hätte sie gar nicht erwartet. Sie wunderte sich über die Personen, die da bei der Séance erschienen waren. Seit ihrer Kindheit hatte sie nicht mehr an ihre Großmutter väterlicherseits gedacht, und ihre Großtante Lovísa aus der Familie mütterlicherseits kannte sie nur vom Hörensagen. Sie war jung an Typhus gestorben.
María konnte an diesem Abend kaum Schlaf finden. Sie war allein zu Hause, denn Baldvin hatte noch einmal in die Klinik gemusst. Draußen heulten herbstliche Winde.
Endlich gelang es ihr einzuschlafen.
Kurze Zeit später schreckte sie wieder hoch, weil sie hörte, wie das offene Gartentor gegen den Zaun schlug. Jetzt goss es wie aus Kübeln. Sie hörte das Klappern des Tors und wusste, dass es sie wach halten würde.
Sie stand auf, zog sich Bademantel und Pantoffeln an und ging in die Küche. Von dort führte eine Tür über eine Holzveranda, die sie vor ein paar Jahren hatten errichten lassen, in den Garten. Sie wickelte den Bademantel fest um sich, band ihn zu und öffnete die Tür. Gleichzeitig nahm sie starken Zigarrenrauch in der Luft wahr.
Sie trat vorsichtig auf die Veranda in den peitschenden Regen hinaus.
Hat Baldvin geraucht?, fragte sie sich.
Sie sah, wie das Tor hin- und hergeschleudert wurde, aber statt es so schnell wie möglich zu schließen und wieder ins Haus zu laufen, stand sie wie angewurzelt auf der Veranda, und ihre Blicke bohrten sich in die Finsternis. Im Garten stand ein Mann, der von Kopf bis Fuß klatschnass war. Er war kräftig und hatte einen Bauch. Der Mann war leichenblass, und das Wasser troff an ihm herunter. Er öffnete und schloss den Mund einige Male, als würde er mühsam nach Luft ringen, bevor er ihr zurief:
»Sei auf der Hut, du weißt nicht, was du tust!«
Zweiundzwanzig
Andersen, das Medium, war misstrauisch und wollte am Telefon nichts sagen; er glaubte noch nicht einmal, dass Erlendur von der Kriminalpolizei war. Erlendur erkannte sofort die Stimme von der Kassette wieder. Der Mann erklärte, falls Erlendur etwas von ihm wolle, müsse er sich genau wie alle anderen einen Termin geben lassen. Erlendur wandte ein, dass das, was er von ihm wolle, unbedeutend sei und kaum Zeit in Anspruch nehmen würde, aber der Mann blieb unerbittlich.
»Willst du Geld von mir?«, fragte Erlendur am Ende des Gesprächs.
»Warten wir es ab«, erklärte der Mann.
Einige Tage später drückte Erlendur abends auf eine Klingel an einem Mehrfamilienhaus im Vogar-Viertel und fragte nach Andersen.
Das Medium öffnete ihm die Haustür, und Erlendur stieg bedächtig die Stufen bis in den zweiten Stock hoch, wo Andersen ihn auf dem Treppenabsatz erwartete. Sie gaben sich die Hand, und Erlendur folgte Andersen in seine Wohnung. Ein schwacher Duft von Räucherstäbchen lag in der Luft, und von irgendwoher ertönte sanfte Musik aus Lautsprechern, die Erlendur nirgendwo entdecken konnte.
Erlendur hatte diesen Besuch vor sich hergeschoben, kam aber dann doch zu der Überzeugung, dass er nicht darum herumkommen würde. Er interessierte sich nicht sonderlich für die Arbeit von Sehern oder ihre Fähigkeit, Kontakt zu Verstorbenen aufzunehmen, und deswegen befürchtete er, dass es zu Meinungsverschiedenheiten kommen könnte. Er war fest entschlossen, sich zurückzuhalten, und hoffte, dass Andersen sich ebenfalls zusammenreißen würde.
Andersen bot ihm einen Stuhl an einem kleinen runden Tisch an und ließ sich ihm gegenüber nieder.
»Lebst du hier allein?«, fragte Erlendur und blickte sich um. Er hatte das Gefühl, sich in einem ganz normalen isländischen Zuhause zu befinden. Einen großen Fernseher gab es, eine Sammlung von Filmen auf Video und dvd – und sehr viele Musik- cd s, die in drei Regalen untergebracht waren. Parkett auf dem Boden, Familienbilder an den Wänden. Keine Schleier und keine Kristallkugeln, dachte Erlendur.
Kein Ektoplasma.
»Steht das in Zusammenhang mit einer Ermittlung?«, fragte Andersen.
»Nein«, entgegnete Erlendur. »Ich bin … Was kannst du mir über María sagen? Ich habe dich bereits am Telefon nach ihr gefragt. Sie hat sich das Leben genommen.«
»Darf ich fragen, weshalb ihr in ihrem Fall ermittelt?«
Erlendur begann, ihm von der schwedischen Erhebung über Selbstmorde und ihre Hintergründe zu erzählen, war sich aber nicht sicher, ob er imstande war, diesen Mann, der ja
Weitere Kostenlose Bücher