Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
Das kleine Mädchen im Kindersitz hinten winkte ihnen zu. Weder Erlendur noch Eva winkten zurück, und das Mädchen sah sie ein wenig enttäuscht an, bevor sie aus ihrem Blick verschwand.
»Glaubst du, dass du mir irgendwann einmal verzeihen kannst?«, fragte Erlendur und sah seine Tochter an.
Sie antwortete nicht, sondern starrte weiter zum Himmel hoch, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Beine übereinandergeschlagen.
»Ich weiß, dass man für sein Schicksal selbst verantwortlich ist«, sagte sie endlich. »Jemand, der stärker und intelligenter ist als ich, hätte womöglich alles ganz anders angepackt. Dieser Jemand hätte sich hoffentlich auch einen Dreck aus euch gemacht. Das wäre die einzig richtige Antwort darauf gewesen, glaube ich, und nicht, Ekel vor sich selbst zu bekommen.«
»Ich habe nicht gewollt, dass du dich selbst hasst. Das wusste ich nicht.«
»Dein Vater hat seinen Sohn ganz bestimmt auch nicht verlieren wollen.«
»Nein, das war nicht seine Absicht.«
Als sie von der Uxahryggur-Piste durch ein lang gestrecktes Tal in den Borgarfjörður gelangten, dämmerte es bereits. Sie machten an keinem See mehr Rast und schwiegen fast den gesamten Rest der Strecke durch den Hvalfjörður-Tunnel und um Kjalarnes herum. Erlendur fuhr seine Tochter zu dem Haus, in dem sie lebte, und als sie sich verabschiedeten, war es bereits dunkel geworden.
Es war ein schöner Tag bei den Seen gewesen, und das sagte er ihr auch beim Abschied. Sie nickte zustimmend und meinte, so etwas könne man ruhig noch einmal machen.
»Wenn sie tatsächlich hier irgendwo in einem der Seen sind, ist deine Chance, sie zu finden, genauso groß wie die, im Lotto zu gewinnen.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Erlendur.
Sie schwiegen wieder eine Weile. Erlendur strich über das Lenkrad seines Ford Falcon.
»Wir sind uns unheimlich ähnlich, Eva«, sagte er, dem Geräusch des Motors lauschend. »Du und ich. Wir sind aus demselben Holz geschnitzt.«
»Findest du?«, fragte Eva Lind und stieg aus.
»Ja, das befürchte ich«, sagte Erlendur.
Mit diesen Worten fuhr er los. Zu Hause angekommen, dachte er darüber nach, wie viel zwischen ihnen noch nicht bereinigt war. Er schlief über der Frage ein, auf die sie noch nicht geantwortet hatte: ob sie ihm verzeihen könne. Auch das blieb ungesagt an dem Tag, an dem sie von See zu See fuhren und nach verloren gegangenen Spuren suchten.
Achtundzwanzig
Am späten Nachmittag des folgenden Tages fuhr Erlendur ein weiteres Mal nach Kópavogur und parkte seinen Wagen in angemessener Entfernung von dem Haus, in dem Karólína lebte. Es war kein Licht in den Fenstern, und ihr Auto war nirgendwo zu sehen. Er nahm an, dass sie noch nicht von der Arbeit zurück war. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete geduldig. Erlendur wusste noch nicht genau, wie er ihr auf den Zahn fühlen würde. Er nahm an, dass Baldvin nach Erlendurs letztem Besuch bei ihm mit ihr gesprochen hatte, denn er ging davon aus, dass es irgendeine Verbindung zwischen ihnen gab, obwohl er es nicht sicher wusste. Vielleicht hatten sie da wieder angeknüpft, wo sich ihre Wege seinerzeit getrennt hatten, als beide in der Schauspielschule waren und Karólína davon träumte, ein Star zu werden. Nach geraumer Zeit hielt der kleine japanische Wagen vor dem Haus. Karólína stieg aus und eilte mit einer prallvollen Lebensmitteltüte ins Haus, ohne nach rechts oder links zu schauen. Erlendur ließ noch eine halbe Stunde vergehen, bevor er zum Haus ging und klingelte.
Als sie zur Tür kam, sah er, dass sie inzwischen die Arbeitskleidung abgelegt hatte und nun bequemere Sachen trug, einen Fleecepullover, eine graue Sporthose und Hausschuhe.
»Bist du Karólína?«, fragte Erlendur.
»Ja?«, entgegnete sie abweisend, als sei er ein lästiger Hausierer.
Erlendur stellte sich vor. Er sei von der Kriminalpolizei und untersuche einen Todesfall am See von Þingvellir, der vor einiger Zeit passiert war.
»Einen Todesfall?«
»Eine Frau, die sich dort das Leben genommen hat«, sagte Erlendur. »Darf ich vielleicht einen Augenblick hereinkommen?«
»Und was soll ich damit zu tun haben?«, fragte Karólína.
Sie war so groß wie Erlendur, hatte kurz geschnittene Haare, fein geschwungene Augenbrauen und dunkelblaue Augen. Sie war schlank und hatte eine gute Figur, soweit Erlendur das durch den Fleecepullover und die weite Hose beurteilen konnte. Sie hatte eine entschlossene Miene aufgesetzt. Ihre Züge wirkten wenig
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