Käptn Snieders groß in Fahrt
nicht mal seine Schüler besuchen. Wenn du magst, guck’ ich öfter mal ’rein.“
Heini lächelte. Er sah in seiner Blässe, mit den tiefliegenden braunen Augen und den zarten Händen, die für einen Jungen viel zu weiß und sauber waren, sehr hilflos aus.
Käpten Snieders merkte erst jetzt, daß er ihm gar nichts mitgebracht hatte, um ihm eine Freude zu machen, und er wurde wütend auf sich selbst.
„Ich bin ein altes Walroß“, schimpfte er, „ein dummes altes Walroß, weil ich nicht daran gedacht habe, dir eine Kleinigkeit mitzubringen.“
„Sie sind doch da, das ist die Hauptsache“, sagte Heini.
„Hm“, brummte Käpten Snieders verlegen, „rauchst du vielleicht? Eine Pfeife Tabak könnte ich dir wohl anbieten.“
„Nein, danke“, sagte Heini, „ich bin Nichtraucher.“
„Ich wüßte schon, womit Sie Heini eine Freude machen könnten“, ließ sich da Ludwig Reiners vernehmen.
„So? Womit denn?“ fragte der Kapitän.
„Wenn Sie ihm auch die Geschichte von dem Seeungeheuer er-zählen. Wir haben das zwar schon getan, aber wenn Sie erzählen, dann ist alles viel spannender.“
„Würde dir das wirklich Spaß machen?“ fragte Käpten Snieders den kranken Jungen.
„Das wäre wunderschön“, antwortete Heini.
„Na, wenn das so ist“, sagte der Kapitän. „Das müßte ja wohl noch zu schaffen sein.“ Und er nahm die Pfeife aus dem Mund. „Also, das war damals, ich fuhr als blutjunger Schiffsjunge auf der Brigg ,Rabenaas 1 viermal im Jahr zwischen Hamburg und New York hin und her“, begann er.
„Brigg?“ unterbrach Ludwig Reiners. „Heute morgen sagten Sie aber, es sei eine Viermastbark gewesen!“
„So? Na, dann muß das ja wohl stimmen. Es war also die Viermastbark ,Seekuh‘, eine ganz verlottertes Schiff, so ’n richtiger Seelenverkäufer.“
„Nein!“ unterbrach diesmal Kluten Neumann. „Es war ein wunderschönes Schiff, piekfein und zuverlässig, und hieß ,Roland von Bremen‘“.
„Meine ich ja“, sagte Käpten Snieders, „wollte ich ja gerade sagen, ein feines Schiff, schnittig wie ein Rasiermesser und schnell wie ein Jagdhund. Ich war der jüngste Schiffsjunge vor dem Mast, und es gehörte zu meinen Aufgaben...“
„Nein“, sagte Ludwig Reiners, „Sie waren Bootsmann.“
„Ja“, ergänzte Kluten Neumann, „und Sie fuhren auch nicht von Hamburg nach New York, sondern von Bremen nach Südamerika.“
„Chotz verdoli“, brummte Käpten Snieders, „bring’ ich das etwa mit meiner siebzehnten Reise durcheinander? Natürlich war ich Bootsmann, ist doch klar! Und der Kapitän hieß Jochen Hammerschmidt und hatte die Tochter des Organisten von Buxtehude zur Frau.“
„Tut mir leid, daß ich Sie wieder unterbrechen muß“, sagte Ludwig Reiners. „Der Kapitän hieß Jan Bullerdiek, und nicht er hatte die Tochter des Organisten zur Frau, sondern der Erste Offizier Fietje Meiners.“
„Und es handelte sich um die Tochter des Organisten aus der
Bremerhavener Michaeliskirche“, steuerte der Knastermaat bei. Dem alten Kapitän traten kleine Schweißperlen auf die Stirn. „Richtig, richtig“, knurrte er, „ihr nehmt mir das Wort vom Mund. Wir kreuzten also gegen einen ganz niederträchtigen Wind an, kamen kaum vom Fleck und hatten kurz hinter den Kanarischen Inseln den ersten Zwischenfall.“
„Stimmt leider alles nicht“, quakte Kluten Neumann dazwischen. „Sie hatten einen steifen achterlichen Wind und erlebten bis zu den Azoren nichts Unerfreuliches.“
Käpten Snieders holte tief Luft und lehnte sich im Sessel zurück. Zum erstenmal im Leben erfuhr er, daß jemand, der Kindern Geschichten erzählt, ein gutes Gedächtnis haben muß. Aber als erfahrener Kapitän wußte er nicht nur ein Schiff zu führen, sondern auch mit unerwarteten Zwischenfällen fertig zu werden. „Wißt ihr was“, sagte er, „ihr habt ja alle einen Aufsatz von der Geschichte geschrieben, der Lutz Lehmann sogar einen piekfeinen. Den lesen wir unserm Patienten einfach vor, dann wird’s bestimmt richtig. Ich bin heute schon ein bißchen durcheinander, bin ja schließlich nicht mehr der Jüngste. Los, lauft mal ’rüber in meinen Kommandostand! Hier ist der Schlüssel für die Haustür. Holt alle Aufsätze. Aber ein bißchen fix, damit Heini nicht so lange warten muß!“
Die beiden Jungen liefen los.
Käpten Snieders war für ein paar Minuten mit dem blassen Heini Brackwede allein.
„Hast du Schmerzen?“ fragte er ihn und blickte auf die feingliedrigen Hände des
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