Kafka am Strand
hochinteressante Theorie. Vielleicht hat Saeki-san, seit sie wieder in der Stadt ist, ihr Talent oder ihre Fähigkeiten etwas – wie du es nennst – Formlosem zugewandt, von dem wir nichts wissen. Aber sie war fünfundzwanzig Jahre lang verschwunden, und wie sollte man wissen, wo sie war und was sie getan hat? Es sei denn, man fragte sie selbst.«
Nach einigem Zögern fasse ich mir ein Herz.
»Darf ich mal was ganz Blödes fragen?«
»Etwas ganz Blödes?«
Ich werde rot. »Ja, was total Unmögliches.«
»Nur zu. Ich habe absolut nichts gegen unmögliche blöde Fragen.«
»Ich würde es auch unglaublich finden, wenn mich jemand so etwas fragte.«
Oshima neigt den Kopf leicht zur Seite.
»Könnte es sein, dass Saeki-san meine Mutter ist?«, frage ich.
Oshima schweigt. Gegen die Theke gelehnt, sucht er lange nach Worten. Nur das Ticken der Uhr dringt an mein Ohr. »Du willst also ungefähr Folgendes sagen: In ihrer Verzweiflung hat Saeki-san Takamatsu mit zwanzig verlassen und irgendwo allein gelebt. Dann hat sie zufällig deinen Vater, den Bildhauer Ko’ichi Tamura, kennen gelernt und geheiratet und als freudiges Ereignis dich bekommen. Nach vier Jahren ist irgendetwas geschehen, das sie dazu bewegt hat, fortzugehen und dich zurückzulassen. Danach kommt eine geheimnisvolle zeitliche Lücke, bis sie wieder in ihre Heimatstadt nach Shikoku zurückkehrt – so ungefähr?«
»Ja.«
»Ich kann nicht sagen, dass es ausgeschlossen wäre. Wie alt müsste deine Schwester jetzt sein?«
»Einundzwanzig.«
»So alt wie ich«, sagt Oshima. »Aber ich kann nicht deine Schwester sein. Ich habe leibliche Eltern und einen älteren Bruder, auch wenn alle meine Blutsverwandten zu gut für mich sind.«
Oshima sieht mich eine Weile mit verschränkten Armen an.
»Übrigens möchte ich dich meinerseits auch etwas fragen«, sagt Oshima. »Hast du schon mal Nachforschungen in deinem Familienregister angestellt? Es müsste doch ganz leicht sein, da den Namen und das Alter deiner Mutter herauszufinden.«
»Natürlich habe ich das schon versucht.«
»Und, wie heißt deine Mutter?«
»Ihr Name stand nicht darin.«
Oshima wirkt erstaunt, als er das hört. »Der Name stand nicht darin? Das kann doch nicht sein!«
»Doch. Wirklich. Ich weiß auch nicht, warum. Aber der Name meiner Mutter steht nicht in unserem Familienregister. Ich habe keine Mutter. Und auch keine Schwester. Nur der Name meines Vaters und meiner sind eingetragen. Rechtlich gesehen bin ich ein uneheliches Kind. Illegitim.«
»Aber in Wirklichkeit hattest du eine Mutter und eine Schwester.«
Ich nicke. »Bis ich vier war, haben wir zu viert als Familie gelebt. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern. Das bilde ich mir nicht ein oder so. Kurz nachdem ich vier geworden war, sind die beiden fortgegangen.«
Ich ziehe das Bild von meiner Schwester und mir am Strand aus dem Portemonnaie. Oshima betrachtet es eine Zeit lang, dann gibt er es mir lächelnd wieder.
»›Kafka am Strand‹«, sagt er.
Ich nicke und stecke das alte Foto in mein Portemonnaie zurück. Der Wind peitscht die Regentropfen gegen die Fensterscheiben. Unsere Schatten, die im Licht der Deckenbeleuchtung auf den Boden fallen, wirken, als finde zwischen ihnen in einer umgedrehten Welt eine verhängnisvolle geheime Unterredung statt.
»Du weißt wohl nicht mehr, wie deine Mutter aussah?«, fragt Oshima. »Immerhin hast du vier Jahre mit ihr verbracht, da könnte es schon sein, dass du dich noch ein bisschen an sie erinnerst.«
Ich schüttle den Kopf. »Überhaupt nicht. In meiner Erinnerung ist ihr Gesicht dunkel, wie von einem Schatten verdeckt.«
Oshima denkt nach. »Könntest du mir ausführlicher erklären, warum du Saeki-san für deine Mutter hältst?«
»Ach, ist schon gut, Herr Oshima«, sage ich. »Lassen wir das. Bestimmt grüble ich nur zu viel.«
»Sag mir einfach alles, was dir durch den Kopf geht«, erwidert Oshima. »Und hinterher entscheiden wir beide dann, ob du zu viel grübelst.«
Oshimas Schatten bewegt sich bei der kleinsten seiner Bewegungen mit ihm. Doch die Bewegungen des Schattens wirken etwas ausladender als die des Originals.
»Zwischen mir und Saeki-san gibt es so viele verblüffende Übereinstimungen. Alles fügt sich genau ineinander, wie Teile eines Puzzles. Als ich ›Kafka am Strand‹ gehört habe, ist mir das ganz deutlich geworden. Vor allem ist es, als sei ich durch irgendein Schicksal hier in die Bibliothek geführt worden, geradewegs von Nakano
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