Kafka am Strand
verirrt. das grösste problem ist allerdings, dass du nicht einmal den wunsch hegst, den ausgang zu finden. stimmt’s?
Oshima kommt später als gestern. Vorher sauge ich im Erdgeschoss und im ersten Stock Staub, wische die Pulte und Stühle feucht ab, öffne die Fenster, putze die Toiletten, leere die Papierkörbe und fülle frisches Wasser in die Blumenvasen. Ich mache die Lichter an und schalte den Computer mit den Suchdateien ein. Schließlich bleibt nur noch das Tor zu öffnen. Oshima begutachtet alles mit zufriedenem Nicken.
»Du hast ein gutes Gedächtnis, und die Arbeit geht dir rasch von der Hand.«
Ich setze Wasser auf und bereite den Kaffee für Oshima zu. Wie am Tag zuvor trinke ich Earl Grey. Draußen beginnt es zu regnen. Schon am Vormittag herrscht abendliche Dunkelheit.
»Herr Oshima, ich habe eine Bitte.«
»Und die wäre?«
»Ob ich wohl irgendwo die Noten zu ›Kafka am Strand‹ bekommen könnte?«
Oshima überlegt ein bisschen. »Wir könnten sie vielleicht im Online-Katalog eines Musikverlags ausfindig machen und gegen Gebühr herunterladen. Wir schauen nachher mal nach.«
»Danke.«
Oshima setzt sich auf den Rand der Theke, gibt einen winzigen Zuckerwürfel in seinen Kaffeebecher und rührt mit dem Löffel sorgfältig um. »Wie findest du das Lied? Gefällt es dir?«
»Sehr.«
»Ich mag es auch sehr. Es ist hübsch und originell zugleich, es ist sanft und hat Tiefe. Und die Persönlichkeit der Komponistin kommt darin unverfälscht zum Ausdruck.«
»Der Text ist sehr symbolisch«, sage ich.
»Dichtung und Symbolik sind seit alter Zeit nicht voneinander zu trennen.«
»Glauben Sie, Saeki-san kennt den Sinn der Worte?«
Oshima hebt den Kopf, lauscht auf das ferne Donnergrollen und berechnet die Distanz. Dann blickt er mir ins Gesicht. Und schüttelt den Kopf.
»Nicht unbedingt. Symbolik und Sinn sind zwei verschiedene Dinge. Wahrscheinlich hat sie das ganze Geschwätz, das man Sinn und Logik nennt, hinter sich gelassen und intuitiv die richtigen Worte erfasst. Sie hat sie im Traum gefangen, als würde sie sacht nach den Flügeln eines Schmetterlings greifen, der durch die Luft segelt. Wahre Künstler besitzen die Fähigkeit, leeres Gerede zu vermeiden.«
»Also hat Saeki-san die Worte in irgendeinem anderen Raum gefunden – zum Beispiel im Traum?«
»Bei einem herausragenden Gedicht ist das mehr oder weniger immer so. Wenn die Worte darin keinen prophetischen Zugang zum Leser finden können, hat es seine Funktion als Gedicht verfehlt.«
»Von solchen gekünstelten Gedichten gibt es viele«, sage ich.
»Genau. Sind die nicht schwer erträglich? Wenn jemand eine symbolhafte Sprache verwendet, um poetisch zu wirken?«
»Aber in ›Kafka am Strand‹ spürt man etwas sehr Eindringliches.«
»Der Meinung bin ich auch. Die Worte sind nicht aufgesetzt. Und auch nicht oberflächlich. Da der Text in meinem Kopf von Anfang an eine Einheit mit der Melodie gebildet hat, kann ich nicht recht beurteilen, wie überzeugend er für sich genommen ist, als Gedicht, aber –«
Oshima schüttelt kurz den Kopf. »Jedenfalls war sie mit einem reichen Talent gesegnet und sehr musikalisch. Und realistisch genug, eine Chance zu ergreifen, als sie sich ihr bot. Hätte sie sich nach diesem tragischen Ereignis nicht aus dem Leben zurückgezogen, hätten sich ihre Talente noch freier entfalten können. Das ist in vieler Hinsicht sehr bedauerlich.«
»Was aus diesem Talent wohl geworden ist?«, frage ich.
Oshima sieht mich an. »Du meinst, nachdem ihr Freund gestorben war?«
Ich nicke. »Eine solche Begabung ist doch eine natürliche Energie. Sucht sie sich vielleicht ein anderes Ventil?«
»Ich weiß es nicht. Talent ist nicht berechenbar. Es kommt auch vor, dass es einfach verschwindet. Oder wie eine unterirdische Wasserader tief unter der Oberfläche im Verborgenen weiterfließt.«
»Vielleicht hat Saeki-san ihre Fähigkeiten nicht musikalisch umgesetzt, sondern auf etwas anderes konzentriert«, sage ich.
»Auf etwas anderes?« Oshima zieht interessiert die Augenbrauen hoch. »Auf was zum Beispiel?«
Mir fehlen die Begriffe. »Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gefühl. Zum Beispiel auf etwas Formloses.«
»Etwas Formloses?«
»Etwas, das andere Menschen nicht sehen können. Etwas, das sie nur für sich tut. Sozusagen ein innerliches Werk.«
Oshima führt die Hand an die Stirn und streicht sich die Haare zurück, die dabei zwischen seinen schlanken Finger hindurchströmen. »Eine
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