Kafka am Strand
Welten.
Kurz darauf beruhigt sich mein Herzklopfen ebenso plötzlich, wie es begonnen hat, und meine Atmung normalisiert sich. Ich nehme wieder meine reglose Haltung ein. Saeki-san lauscht nicht mehr und richtet ihren Blick erneut auf »Kafka am Strand«. Wie zuvor stützt sie das Kinn in die Hände, und ihr Herz kehrt zu dem Jungen auf dem sommerlichen Bild zurück.
Nachdem sie etwa zwanzig Minuten in dieser Stellung verharrt hat, verlässt das schöne Mädchen den Raum. Wie am Tag zuvor ist sie barfuss. Sie erhebt sich, geht lautlos zur Tür und verschwindet dahinter, ohne sie geöffnet zu haben. Ich lasse etwas Zeit verstreichen, stehe auf und setze mich, ohne Licht zu machen, im Dunkeln auf den Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen hat. Ich lege meine Hände auf den Schreibtisch und nehme die von ihr zurückgebliebene Aura in mich auf. Mit geschlossenen Augen fange ich den Schauer ihrer Seele auf und lasse ihn in mein eigenes Herz ein.
Mir kommt der Gedanke, dass es zwischen dem Mädchen und mir zumindest eine Gemeinsamkeit gibt. Beide lieben wir einen Menschen, den es auf dieser Welt nicht mehr gibt.
Kurz darauf schlafe ich ein. Aber meinem Schlaf mangelt es an Ausgeglichenheit. Mein Körper verlangt nach tiefem Schlaf, während mein Bewusstsein sich dagegen sträubt. Wie ein Pendel schwanke ich zwischen beidem hin und her. Bei Tagesanbruch werden die Vögel im Garten lebendig und wecken mich mit ihrem Gezwitscher vollends auf.
In Jeans und T-Shirt, darüber ein Hemd mit langen Ärmeln, gehe ich ins Freie. Um fünf Uhr morgens sind die Straßen noch menschenleer. Ich durchquere das alte Stadtviertel, lasse das als Schutz vor dem Wind angelegte Kiefernwäldchen hinter mir, steige über den Damm und gelange ans Meer. Es ist nahezu windstill, und eine graue Wolkenschicht verdeckt den Himmel, aber es sieht nicht aus, als würde es bald regnen. Der Morgen ist so still, dass es mir vorkommt, als schluckten die Wolken jedes irdische Geräusch.
Während ich den Fußgängerweg am Meer entlanggehe, stelle ich mir vor, dass der Junge auf dem Bild mit seinem Liegestuhl irgendwo an diesem Strand gesessen hat. Wo, kann ich nicht ausmachen. Die Landschaft auf dem Bild besteht nur aus Strand, Meer, Horizont, Himmel und Wolken. Und einer Insel. Aber Inseln gibt es viele, und an die Form der Insel auf dem Bild kann ich mich nicht erinnern. Ich setze mich in den Sand und zeichne mit dem Finger einen passenden Rahmen in Richtung Meer, in den ich die Gestalt des Jungen im Liegestuhl platziere. Am windstillen Himmel segelt unentschlossen eine weiße Möwe. Kleine Wellen brechen sich in regelmäßiger Folge, zeichnen einen weichen Bogen in den Sand und lassen kleine Blasen zurück.
Mir wird bewusst, dass ich auf den Jungen in dem Bild eifersüchtig bin.
»Du bist eifersüchtig auf einen Jungen in einem Bild«, flüstert Krähe mir ins Ohr.
DIESER junge wurde mit zwanzig aufgrund einer verwechslung SINNLOS GETÖTET – ÜBRIGENS BEREITS VOR DREISSIG JAHREN – UND AUF DIESEN BEDAUERNSWERTEN JUNGEN BIST DU EIFERSÜCHTIG. So SEHR, DASS ES DIR FAST DEN ATEM NIMMT. ZUM ERSTEN mal in deinem leben empfindest du auf jemanden eifersucht. endlich begreifst du, was eifersucht ist. sie verzehrt dein herz wie ein buschfeuer.
IN deinem ganzen leben hast du nie jemanden beneidet, nie hast du dir gewünscht, jemand anders zu sein. doch nun beneidest du diesen jungen mann aus tiefstem herzen. du würdest mit ihm tauschen, wenn es möglich wäre. obwohl du weisst, dass er mit zwanzig jahren gefoltert und mit einer eisenstange erschlagen wurde. es würde dir nichts ausmachen, denn du willst zwischen deinem fünfzehnten und zwanzigsten lebensjahr bedingungslos saeki-san lieben und bedingungslos von ihr geliebt werden. sie ungehindert in die arme nehmen und immer wieder mit ihr schlafen. du willst jeden winkel ihres körpers berühren. und du willst, dass sie jeden winkel deines körpers berührt. und nach deinem tod willst du als geschichte oder als bild in ihr herz eingebrannt sein. und nachts in der erinnerung von ihr geliebt werden.
DU stehst wirklich vor einem dilemma. du bist in ein mädchen verliebt, das es nicht mehr gibt, und auf einen jungen eifersüchtig, der bereits tot ist. das herzzerreissende an deinen gefühlen ist jedoch, dass sie viel realer sind als jedes gefühl, das du bisher in der realität erFAHREN HAST. deine lage ist ausweglos. Es EXISTIERT nicht einmal eine möglichkeit. du hast dich im labyrinth der zeit
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