Kafka am Strand
gewöhnlich.
Ich gehe in mein Zimmer und schaue mir die Noten von »Kafka am Strand« an, die Oshima mir ausgedruckt hat. Wie ich es vermutet habe, sind die meisten Tonfolgen sehr schlicht, und in der Überleitung gibt es zwei äußerst komplizierte Akkorde. Ich setze mich ans Klavier im Lesesaal und schlage probeweise ein paar Töne an. Die Fingerposition ist ungeheuer schwierig. Obwohl ich mehrmals angestrengt versuche, meine Hände dazu zu bringen, diese Akkorde zu greifen, bringe ich anfangs nur Missklänge zustande. Ob in den Noten Druckfehler stecken? Oder das Klavier verstimmt ist? Aber nachdem ich die beiden Akkorde noch mehrmals konzentriert abgehört habe, bin ich überzeugt, dass in ihnen die Basis der Melodie von »Kafka am Strand« steckt. Diese beiden Akkorde sind es, die dem Lied jene Tiefe verleihen, die es von gewöhnlichen Schlagern unterscheidet. Wie ist Saeki-san nur auf diese ungewöhnlichen Akkorde gekommen?
Ich gehe wieder in mein Zimmer und mache mir mit dem Wasserkocher einen Tee. Dann lege ich nacheinander die Schallplatten aus der Abstellkammer auf. »Blonde on Blonde« von Bob Dylan, das »White Album« der Beatles, »Dock of the Bay« von Otis Redding, »Getz/Gilberto« von Stan Getz, alles Erfolge Mitte und Ende der Sechziger Jahre. Der Junge in diesem Zimmer – und mit ihm bestimmt auch Saeki-san – hat genau wie ich jetzt diese Platten aufgelegt, die Nadel aufgesetzt und der Musik aus dem Lautsprecher gelauscht. Mir ist, als ob diese Klänge das ganze Zimmer, mich eingeschlossen, in eine andere Zeit versetzen. In eine Welt, in der ich noch nicht geboren bin. Während ich die Musik höre, bemühe ich mich, das Gespräch mit Frau Saeki am Mittag möglichst genau zu rekapitulieren. »Ich glaube, wenn du fünfzehn bist, gibt es bestimmt irgendwo auf der Welt einen solchen Ort. Und du kannst den Eingang zu dieser anderen Welt irgendwo finden.«
Ich habe ihre Stimme noch im Ohr. Doch noch etwas anderes pocht hartnäckig an eine Tür in meinem Kopf. Sehr hartnäckig.
»Eingang?«
Ich nehme den Tonarm von »Getz / Gilberto« und lege »Kafka am Strand« auf. Ich setze die Nadel auf, und Saeki-san beginnt zu singen.
»Die Finger des ertrunkenen Mädchens betasten den Stein am Eingang. Sie hebt den Saum des blauen Kleides und sieht Kafka am Strand.«
Vielleicht hat sie hier in diesem Zimmer den Stein am Eingang entdeckt und beiseite geschoben, ist in der anderen Welt fünfzehn geblieben und kommt nachts in ihrem hellblauen Kleid hierher, um Kafka am Strand zu betrachten.
Da fällt es mir ganz plötzlich ein. Mein Vater hat erzählt, dass er irgendwann einmal fast vom Blitz erschlagen worden sei. Ich habe die Geschichte nicht von ihm selbst gehört, sondern sie zufällig in einem Interview in irgendeiner Zeitschrift gelesen. Während mein Vater an der Kunsthochschule studierte, jobbte er als Caddy auf einem Golfplatz. Eines Julinachmittags, als er mit einen Golfer auf dem Platz unterwegs war, verfärbte sich plötzlich der Himmel, und ein heftiges Gewitter zog auf. Ein Blitz schlug in den Baum ein, unter dem er und der Mann vor dem Regen Schutz gesucht hatten. Der riesige Baum wurde in zwei Hälften gespalten, und der Golfspieler kam ums Leben. Mein Vater hatte unmittelbar davor eine Ahnung gehabt, war vom Baum weggerannt und hatte überlebt. Er erlitt nur leichte Verbrennungen, und sein Haar war angesengt. Durch den Luftdruck war er mit dem Kopf gegen einen Stein geschleudert worden und hatte das Bewusstsein verloren. Davon hatte er noch eine kleine Narbe an der Stirn. Das war es, woran ich mich am Nachmittag, als ich in der Tür zu Frau Saekis Büro stand und den Donner hörte, zu erinnern versucht hatte. Nachdem er sich von seinen Verletzungen erholt hatte, begann mein Vater sein Leben als Bildhauer. Ob Saeki-san meinen Vater kennen gelernt hat, als sie die Interviews für ihr Buch führte? Es wäre immerhin möglich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auf der Welt sehr viele Menschen gibt, die einen Blitzeinschlag überlebt haben.
Leise atmend warte ich, dass die Nacht fortschreitet. Der Himmel reißt auf, und Mondlicht liegt auf den Bäumen im Garten. Es gibt zu viele Übereinstimmungen. Rasch beginnen viele Fäden an einem Punkt zusammenzulaufen.
26
Es war schon später Nachmittag, und sie mussten sich zunächst mal eine Unterkunft sichern. Hoshino ging in das Tourismusbüro am Bahnhof in Takamatsu und ließ in einem geeigneten Hotel reservieren, das zu Fuß
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