Kafka am Strand
redest du sehr vernünftig.«
Darauf fällt mir keine Antwort ein, also schweige ich.
»Mit fünfzehn habe ich mir auch immer gewünscht, in eine andere Welt zu gehen.« Frau Saeki lächelt. »An einen Ort so weit, dass keine Hand ihn erreicht, und an dem die Zeit nicht verfließt.«
»Aber einen solchen Ort gibt es nicht auf dieser Welt.«
»Genau. Deshalb muss ich ja auch hier leben, wo die Menschen Schaden erleiden, die Herzen sich wandeln und die Zeit unaufhaltsam vergeht.« Eine Weile schweigt sie, wie um den Fluss der Zeit zu unterstreichen. Dann fährt sie fort. »Doch, ich glaube, wenn man fünfzehn ist, gibt es bestimmt irgendwo auf der Welt einen solchen Ort. Und du kannst den Eingang zu dieser anderen Welt irgendwo entdecken.«
»Saeki-san, waren Sie einsam? Als Sie fünfzehn waren?«
»In gewisser Weise ja. Ich war zwar nicht allein, aber dennoch schrecklich einsam. Denn ich wusste, dass die Zeit meines Glücks begrenzt war. Ich wusste es ganz genau. Deshalb wünschte ich mir so sehr, an einem zeitlosen Ort zu leben, an dem alles ewig so bliebe.«
»Ich würde gern etwas schneller älter werden.«
Frau Saeki nimmt ein wenig Abstand, um in meinem Gesicht zu lesen. »Sicher bist du viel stärker als ich, und dein Geist ist unabhängiger. Ich konnte mir damals nur vorstellen, vor der Realität zu fliehen. Aber du stellst dich ihr und kämpfst. Das ist ein großer Unterschied.«
Aber ich bin nicht stark und habe auch keinen unabhängigen Geist. Und der Realität stelle ich mich auch nur gezwungenermaßen. Doch das sage ich nicht.
»Du erinnerst mich an einen Jungen, der vor langer Zeit fünfzehn war.«
»Sah er mir ähnlich?« frage ich.
»Du bist größer und kräftiger, aber du ähnelst ihm. Er sprach nicht mit Kindern seines Alters und schloss sich immer in seinem Zimmer ein, um zu lesen oder Musik zu hören. Wenn er über etwas Kompliziertes sprach, hatte er die gleiche Falte wie du zwischen den Augenbrauen. Und du liest ja auch viel.«
Ich nicke.
Frau Saeki blickt auf die Uhr. »Danke für den Kaffee.«
Ich stehe auf und schicke mich an, den Raum zu verlassen, während Frau Saeki ihren schwarzen Füllfederhalter zur Hand nimmt und langsam die Kappe abschraubt, um weiterzuschreiben. Draußen vor dem Fenster zuckt wieder ein Blitz und taucht das Zimmer für eine Sekunde in sein seltsames Licht. Kurz darauf donnert es. Die Distanz hat sich verringert.
»Ach, warte mal«, ruft Frau Saeki mir nach.
Ich bleibe an der Schwelle stehen und wende mich um.
»Gerade fällt mir etwas ein. Ich habe vor längerer Zeit einmal ein Buch über Gewitter geschrieben.«
Ich schweige. Ein Buch über Gewitter?
»Über Leute, die vom Blitz getroffen worden sind. Ich bin durch ganz Japan gereist, um Interviews mit ihnen zu führen. Das war vor einigen Jahren. Es waren ziemlich viele Interviews und alle hochinteressant. Ein kleiner Verlag hat das Buch veröffentlicht, verkauft hat es sich aber kaum. Es hatte kein Fazit, und ein Buch ohne Fazit wollte anscheinend niemand so gern lesen. Dabei fand ich es ganz natürlich, dass es kein Fazit hatte.«
Ein kleiner Hammer klopft in einer der Schubladen in meinem Kopf. Er klopft sehr hartnäckig. Ich versuche, mich an etwas sehr Wichtiges zu erinnern. Aber es fällt mir nicht ein. Frau Saeki wendet sich wieder ihrer Schreibarbeit zu, und ich verlasse resigniert den Raum.
Das heftige Gewitter dauert ungefähr eine Stunde an. Es ist so stark, dass ich befürchte, die Scheiben der Bibliothek könnten zersplittern. Durch das Buntglas über dem Treppenabsatz wird bei jedem Blitz ein fantastisches Bild wie aus einer fernen Vergangenheit an die weiße Wand geworfen. Aber noch vor zwei Uhr hört der Regen auf, und gelber Sonnenschein strömt durch die Wolken, als hätten sich die Elemente endlich versöhnt. Es herrscht ein mildes Licht, und nur noch ein schwaches Tropfen ist zu hören. Bald wird es Nachmittag, und ich beginne mit den Vorbereitungen für die Schließung der Bibliothek. Frau Saeki verabschiedet sich von Oshima und mir und fährt nach Hause. Als ich den Motor ihres Golf höre, stelle ich mir vor, wie sie im Wagen sitzt und den Zündschlüssel umdreht. Ich könne ruhig allein aufräumen, sage ich zu Oshima. Eine Opernarie summend wäscht er sich im Bad Gesicht und Hände, dann macht auch er sich auf den Heimweg. Sein Mazda-Roadster springt an, wird leiser und ist bald ganz verklungen. Nun bin ich in der Bibliothek allein. Die Stille ist tiefer als
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