Kafka am Strand
schwierige, gestrenge Vater Oberst Trapp in Wien ist, wandert die Hauslehrerin Maria mit den Kindern in die Berge. Sie sitzen auf einer Wiese und singen unschuldige Lieder, die sie auf der Gitarre begleitet. Eine berühmte Szene. Ich setze mich vor den Apparat. Der Film fesselt mich. Wenn es in meiner Kindheit einen Menschen wie Maria gegeben hätte, wäre mein Leben sicher anders verlaufen. (Den gleichen Gedanken hatte ich schon, als ich den Film das erste Mal sah.) Selbstverständlich tauchte ein solcher Mensch nie auf.
Abrupt kehre ich in die Realität zurück. Wie komme ich dazu, mir an diesem Ort in vollem Ernst Die Trapp-Familie anzusehen? Und wieso ausgerechnet Die Trapp-Familie? Ob die Leute hier eine Satellitenantenne verwenden und irgendeinen Fernsehsender empfangen? Oder ob sie von irgendwoher Videos ausstrahlen? Wahrscheinlich ist es ein Band. Beim Umschalten auf verschiedene andere Kanäle entdecke ich, dass auf allen außer dem einen ein Sandsturm herrscht. Zumindest lässt mich das raue weiße Flimmern und das anorganische Rauschen an einen heftigen Sandsturm denken.
Als sie »Edelweiß« singen, schalte ich den Fernseher ab. Die ursprüngliche Stille kehrt in den Raum zurück. Da ich durstig bin, gehe ich in die Küche, nehme den großen Milchkrug aus dem Kühlschrank und trinke von der frischen, sahnigen Milch, die so ganz anders ist als die, die man im Supermarkt kauft. Während ich ein Glas nach dem anderen in mich hineingieße, fällt mir plötzlich der Film Sie küssten und sie schlugen ihn von François Truffaut ein. Darin läuft der Junge Antoine von zu Hause fort, bekommt Hunger, klaut frühmorgens eine Milchflasche, die gerade vor einer Haustür abgestellt wurde, und trinkt sie noch im Laufen aus. Es ist eine große Milchflasche, und es dauert lange, bis er sie ausgetrunken hat. Eine traurige, herzzerreißende Szene. Es ist unglaublich, dass etwas zu essen oder zu trinken so herzzerreißend wirken kann. Auch dieser Film gehört zu den wenigen, die ich als Kind gesehen habe. Ich hatte mir den Klassiker angeschaut, als ich in der fünften Klasse war, weil mich der Titel interessierte. Damals fuhr ich mit der Bahn nach Ikebukuro, ging ins Kino und fuhr wieder mit der Bahn nach Hause. Als ich aus dem Kino kam, kaufte ich mir sofort eine Flasche Milch und trank sie aus. Das musste ich einfach tun.
Als ich genug Milch getrunken habe, spüre ich erst, wie schrecklich müde ich bin. Es ist eine bleierne Müdigkeit, von der mir beinahe übel wird. Mein Denkvermögen verliert zusehends an Geschwindigkeit und kommt allmählich zum Stillstand, wie ein Zug, der in einen Bahnhof einfährt. Schon bald kann ich nicht mehr richtig denken. Es ist, als ob das Innere meines Körpers erstarrt. Ich gehe ins Schafzimmer, ziehe mir taumelnd Hose und Schuhe aus und lege mich ins Bett. Dann vergrabe ich das Gesicht im Kissen und schließe die Augen. Das Kissen riecht nach Sonnenschein. Ein Geruch, der mich an etwas erinnert. Ich atme ihn langsam ein und wieder aus. Im nächsten Augenblick bin ich eingeschlafen.
Als ich aufwache, ist es stockdunkel. Mit geöffneten Augen überlege ich in der ungewohnten Dunkelheit, wo ich bin. Ich habe unter der Führung der beiden Soldaten den Wald verlassen und bin in einen kleinen Ort mit einem Flüsschen gelangt. Stück für Stück kehrt die Erinnerung zurück, Tiefenschärfe stellt sich wieder ein. Auch an eine Melodie erinnere ich mich. »Edelweiß«. Aus der Küche tönen das Klappern von Töpfen und leise traute Geräusche herüber. Durch die Schlafzimmertür, die einen Spalt geöffnet ist, fällt Licht und wirft eine gerade gelbe Linie auf den Fußboden. Es ist ein altmodisches körniges Licht.
Ich will mich erheben, aber mein Körper fühlt sich taub an. Es ist eine sehr gleichmäßige Taubheit. Ich hole tief Luft und sehe zur Decke. Das Klappern von Tellern auf Tellern ist zu hören. Jemand bewegt sich geschäftig in der Küche hin und her. Vielleicht macht diese Person für mich das Abendessen. Endlich hieve ich mich aus dem Bett und stelle die Füße auf den Boden. Ich brauche ziemlich lange, um Hose, Socken und Schuhe anzuziehen. Ich greife leise nach dem Türknauf und öffne die Tür.
In der Küche steht ein Mädchen. Sie wendet mir den Rücken zu und kostet, über einen Topf gebeugt, mit einem Löffel. Aber als ich die Tür öffne, hebt sie den Kopf und dreht sich zu mir um. Es ist das Mädchen, das in der Komura-Bibliothek jeden Abend zu mir ins Zimmer gekommen
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