Kafka am Strand
leeren Teller. »Guck doch, nichts mehr übrig.«
»Ich hab das gekocht.«
»Es hat sehr gut geschmeckt«, wiederhole ich, und ich meine es ehrlich.
Bei ihrem Anblick verspüre ich einen Schmerz, als bohrte sich eine eisige Messerspitze in meine Brust. Es ist ein heftiger Schmerz, für dessen Heftigkeit ich jedoch beinahe dankbar bin. In ihm kann ich meine Existenz verorten. Er wird zum Anker, der mich hier festhält. Sie steht auf, erhitzt Wasser und macht Tee. Während ich ihn am Tisch trinke, bringt sie das gebrauchte Geschirr in die Küche und beginnt es unter fließendem Wasser abzuwaschen. Ich beobachte sie die ganze Zeit von hinten. Ich will etwas sagen, aber in ihrer Gegenwart ist mir, als hätten alle Worte ihre ursprüngliche Funktion verloren. Oder als wäre der Sinn, der sie miteinander verbindet, gelöscht. Ich betrachte meine Hände und denke an den Hartriegelbaum im Mondlicht vor dem Fenster. Dort ist das eisige Messer, das sich mir in die Brust bohrt.
»Kann ich dich Wiedersehen?« frage ich.
»Natürlich«, erwidert das Mädchen. »Wie gesagt, wenn du mich brauchst, bin ich da.«
»Kommt es nicht vor, dass du mal plötzlich irgendwo hingehst?«
Sie schweigt und sieht mich nur mit einem verwunderten Blick an, als frage sie: Wohin soll ich denn gehen?
»Ich bin dir früher schon begegnet«, wage ich mich vor. »Woanders, in einer anderen Bibliothek.«
»Wenn du das sagst.« Sie fasst sich ins Haar, um sich zu vergewissern, dass ihre Spange noch am Platz ist.
In ihrer Stimme ist fast kein Gefühl. Als wolle sie mir zeigen, dass das Thema sie nicht sonderlich interessiert.
»Und ich bin wahrscheinlich hierher gekommen, um dich wiederzusehen. Dich und noch eine andere Frau.«
Sie hebt das Gesicht und nickt ernsthaft. »Durch den tiefen Wald.«
»Ja. Ich muss dich und die andere Frau unter allen Umständen noch einmal sehen.«
»Und mich hast du ja auch angetroffen.«
Ich nicke.
»Ich sag es dir doch: Wenn du mich brauchst, bin ich da.«
Als sie mit Abwaschen fertig ist, packt sie den Behälter, in dem das Essen war, in einen Segeltuchbeutel und hängt ihn sich über die Schulter.
»Bis morgen früh«, sagt sie zu mir. »Leb dich gut ein.«
Ich stehe in der Tür und beobachte, wie ihre Gestalt gleich darauf in der Dunkelheit verschwindet. Ich bin wieder allein im Haus. Ich befinde mich in einem geschlossenen Kreis. Zeit ist hier kein bedeutsamer Faktor. Niemand hier hat einen Namen. Sobald ich sie brauche, ist sie da. Hier ist sie fünfzehn. Wahrscheinlich für immer. Aber was wird nun eigentlich aus mir? Ob ich hier auch ewig fünfzehn bleibe? Oder ist das Alter hier auch nicht von Bedeutung?
Als ich sie nicht mehr sehen kann, bleibe ich noch in der Tür stehen und lasse meine Blicke über die Landschaft schweifen. Am Himmel stehen weder Mond noch Sterne. Einige der Häuser sind erleuchtet. Aus den Fenstern fällt das gleiche altmodische gelbe Licht, das auch mein Haus erhellt. Noch immer ist kein Mensch zu sehen, nur das Licht in den Fenstern. Überall darum herum breitet sich ein tiefdunkles Schattenreich aus, über dem, schwärzer als die Dunkelheit, die Bergkämme emporragen. Mir wird klar, dass der tiefe Wald eine Mauer ist, die den Ort umschließt.
46
Seit Nakata gestorben war, konnte Hoshino die Wohnung nicht mehr verlassen. Immerhin lag der »Eingangsstein« noch dort, und der junge Mann konnte nicht wissen, was wann und um wie viel Uhr geschehen würde. Wenn dieses Etwas eintreten würde, musste er sich in der Nähe des Steins aufhalten und schnellstens reagieren. Das war die Verantwortung und Aufgabe, die auf ihn als Nakatas Erbe übergegangen war. Er stellte die Klimaanlage in dem Zimmer, in dem Nakata lag, auf die niedrigste Temperaturstufe und auf die höchste Umdrehung und vergewisserte sich, dass alle Fenster dicht verschlossen waren.
»So, alter Freund, hoffentlich wird’s dir nicht zu frisch«, sagte Hoshino, wozu Nakata sich natürlich nicht äußerte. Ohne Zweifel kam der Mief im Zimmer mit der Zeit vom Körper des Verstorbenen.
Der junge Mann setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und ließ tatenlos die Zeit verstreichen. Musik zu hören hatte er keine Lust, und Appetit hatte er auch nicht. Auch als der Abend kam und Dunkelheit allmählich Besitz von jedem Winkel des Zimmers ergriff, stand er nicht auf, um das Licht anzuschalten. Alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen zu sein, denn nachdem er einmal saß, kam er nicht mehr hoch. Langsam kam und
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