Kafka am Strand
verging die Zeit. Manchmal hatte Hoshino fast das Gefühl, dass sie hinter seinem Rücken heimlich einen Bogen schlug und wiederkehrte.
Als sein Großvater gestorben war, hatte er auch Schmerz empfunden, aber nicht so. Aufgrund der langen Krankheit seines Großvaters hatte er mit dessen Tod gerechnet und war bis zu einem gewissen Grad darauf vorbereitet gewesen. Ohne diese Phase der Vorbereitung war alles ganz anders, aber daran allein lag es nicht. Nakatas Tod berührte Hoshino tief und machte ihn sehr nachdenklich.
Als er doch ein wenig hungrig wurde, ging er in die Küche, nahm aus dem Kühlschrank tiefgefrorenen gebratenen Reis, taute ihn auf dem Herd auf und aß etwa die Hälfte davon. Dazu trank er eine Dose Bier. Nach dem Essen ging er wieder ins Nebenzimmer, um nach Nakata zu sehen. Irgendwie hegte er noch immer die leise Hoffnung, Nakata könnte wieder lebendig geworden sein. Das Zimmer war wie ein Kühlschrank. Es war so kalt dort, dass selbst Eis nicht so leicht geschmolzen wäre.
Es war das erste Mal, dass er eine Nacht allein mit einem Toten unter einem Dach verbringen würde. Das machte ihn etwas beklommen. Nicht, dass er wirklich Angst gehabt hätte. Besonders unheimlich war ihm auch nicht. Er war nur den Umgang mit Toten nicht gewohnt. Für die Toten und die Lebenden vergeht die Zeit auf verschiedene Weise. Die Geräusche klingen anders. Deswegen konnte Hoshino sich nicht entspannen – da war nichts zu machen. Nakata war eben jetzt in der Welt der Toten, und er, Hoshino, gehörte der Welt der Lebenden an. Es gab da eine Kluft. Er stand vom Sofa auf und setzte sich neben den Stein. Er streichelte den runden Stein, wie man eine Katze streichelt.
»Was soll ich nur mit dir machen?«, sprach er den Stein an. »Ich würde Nakata gern ordnungsgemäß an irgendeine Stelle übergeben, aber solange du nicht versorgt bist, geht das nicht. Das heißt, ich sitze ein bisschen in der Klemme. Falls du weißt, was ich machen soll, dann sag’s mir bitte.«
Aber es kam keine Antwort. Der Stein war im Augenblick nur ein Stein, das konnte auch Hoshino begreifen. Dass er ihm einen Rat erteilen würde, stand nicht zu erwarten. Dennoch blieb Hoshino neben dem Stein sitzen und fuhr fort, ihn zu streicheln. Er stellte ihm alle möglichen Fragen, legte ihm Gründe vor und versuchte es mit Überredung. Er appellierte sogar an sein Mitgefühl. Natürlich wusste er, dass das vergeblich war, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Außerdem hatte ja auch Nakata auf diese Weise mit dem Stein gesprochen.
Wahrscheinlich ist es hoffnungslos, Mitgefühl von einem Stein zu erwarten, dachte Hoshino. Sicherlich sagt man nicht umsonst »hart wie ein Stein«.
Er wollte sich die Nachrichten im Fernsehen anschauen und stand vom Boden auf, überlegte es sich dann jedoch anders und ließ sich wieder neben dem Stein nieder. Der junge Mann spürte, dass Ruhe im Augenblick wahrscheinlich das Wichtigste war. Ich muss die Ohren offen halten und warten, dass etwas geschieht, dachte er.
»Aber Warten war noch nie meine Stärke«, sagte er zu dem Stein gewandt. Wenn er es sich recht überlegte, hatte es ihm eigentlich schon immer an Geduld gefehlt. Immer war er, ohne zu überlegen, Hals über Kopf losgestürmt, hatte einen falschen Weg eingeschlagen und war gescheitert. Du bist so unruhig wie eine Katze im Frühling, hatte schon sein Großvater zu ihm gesagt. Aber nun blieb ihm nichts anderes übrig, als dazusitzen und abzuwarten. »Nur Geduld, Hoshino«, ermutigte er sich selbst.
Außer dem unentwegten Summen der Klimaanlage im Nebenzimmer drang kein Laut an sein Ohr. Die Zeiger der Uhr wanderten über neun, dann über zehn Uhr hinaus, doch nichts geschah. Die Zeit verging, und die Nacht schritt voran. Der junge Mann holte sich eine Decke und legte sich damit aufs Sofa, denn er hatte das Gefühl, dass er sich auch im Schlaf lieber in der Nähe des Steins aufhalten sollte. Er löschte das Licht und schloss die Augen.
»Also, hör zu, Stein, ich schlafe jetzt«, sagte er zu dem Stein an seinem Fußende. »Morgen früh reden wir weiter. Heute war ein langer Tag. Der gute alte Hoshino möchte auch mal schlafen.«
Wirklich, dachte er noch einmal, ein langer Tag, an dem eine Menge passiert ist.
»He, alter Freund«, rief er laut zum Nebenzimmer hinüber. »Nakata! Hörst du mich?«
Keine Antwort. Hoshino seufzte, schloss die Augen, rückte sein Kissen zurecht und schlief, ohne einen einzigen Traum zu haben, bis zum Morgen durch. Im
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