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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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anderes denken. Weder an vorher noch an nachher. Das ist … eben der Sexualtrieb. Wie hieß noch mal die verschwundene Katze?«
    »Goma.«
    »Ich würde Ihnen gern helfen, Goma zu finden. Eine einjährige Katze, die bei einer Familie ein behütetes Leben geführt hat, weiß ja nichts von der Welt. Sie kann nicht kämpfen und findet wahrscheinlich auch nichts zu fressen. Sie tut mir leid. Leider habe ich sie nicht gesehen. Wahrscheinlich müssen Sie woanders suchen.«
    »Ja, Sie haben Recht. Nakata muss es mal woanders versuchen. Entschuldigen Sie die Störung bei Ihrem Mittagsschlaf. Nakata kommt wieder vorbei, und wenn Sie inzwischen Goma gesehen haben, sagen Sie ihm bitte unbedingt Bescheid. Vielen Dank schon mal.«
    »Nein, nein, Sie haben mich ganz und gar nicht gestört. Ich fand unser Gespräch ausnehmend interessant. Schauen Sie doch bitte bald wieder vorbei … Bei schönem Wetter bin ich oft auf dem Grundstück hier. Wenn es regnet, bin ich an dem Schrein unterhalb der Treppe da drüben.«
    »In Ordnung, vielen Dank. Es war Nakata eine große Freude, sich mit Herrn Otsuka unterhalten zu dürfen. Er kann zwar die Katzensprache, aber nicht mit jeder Katze versteht er sich so gut. Manche Katzen sind misstrauisch, sagen nichts und verschwinden einfach, wenn Nakata sie anspricht. Auch wenn er bloß Guten Tag sagen wollte …«
    »Kann sein. Nicht nur die Menschen sind verschieden, Katzen auch.«
    »Genau. Das hat Nakata sich auch schon gedacht. Auf der Welt gibt es so viele Menschen und Katzen.«
    Otsuka streckte sich und sah in den Himmel hinauf. Die Nachmittagssonne tauchte den Bauplatz in goldgelbes Licht. Ein bisschen sah es auch nach Regen aus. Wie er es vorausgesehen hatte.
    »Sie sagten doch, dass Sie als Kind einen Unfall hatten und deshalb nicht besonders hell im Kopf sind?«
    »Ja, genau. Nakata war damals neun.«
    »Was war das für ein Unfall?«
    »Es war – Nakata kann sich überhaupt nicht daran erinnern. Es wird erzählt, es war so etwas wie ein Fieber, für das keiner den Grund wusste. Nakata soll drei Wochen lang bewusstlos gewesen sein. Die ganzen drei Wochen hat Nakata im Krankenhaus im Bett gelegen und am Tropf gehangen. Als Nakata wieder zu sich kam, hatte er alles vergessen, was bis dahin gewesen war. Vater, Mutter, Lesen, Rechnen, seine Adresse, sogar seinen eigenen Namen hatte Nakata vergessen. Wie wenn jemand den Stöpsel aus der Badewanne zieht, ist aus seinem Kopf restlos alles ausgelaufen. Vor dem Unfall soll Nakata gut in der Schule gewesen sein. Aber irgendwann fiel er um, und als er wieder aufwachte, war er dumm. Mutter ist schon lange tot, aber sie hat deshalb viel geweint. Sie musste weinen, weil Nakata so dumm geworden war. Vater hat nicht geweint, aber er war immer böse.«
    »Aber stattdessen haben Sie die Katzensprache gelernt.«
    »Ja, genau.«
    »Aha.«
    »Außerdem ist Nakata kerngesund und war noch nie krank. Keine Zahnschmerzen, keine Brille.«
    »Soweit ich sehen kann, sind Sie auch nicht dumm.«
    »Wirklich?«, sagte Nakata verdutzt. »Aber Herr Otsuka, Nakata ist schon über sechzig. Über sechzig! Und er ist daran gewöhnt, dumm zu sein. Alle sind daran gewöhnt. Auch ohne Straßenbahn zu fahren, kann man leben. Vater ist tot und kann mich nicht mehr schlagen. Mutter ist tot und weint nicht mehr. Wenn jetzt plötzlich einer zu Nakata sagt: ›Du bist nicht dumm‹, dann ist das ein Problem für Nakata. Wenn er jetzt doch nicht dumm ist, bekommt er vielleicht keine Unterstützung mehr vom Herrn Gouverneur und kann nicht mehr mit dem Sonderausweis Bus fahren. Was soll Nakata antworten, wenn Herr Gouverneur schimpft, weil er gar nicht dumm ist? Am besten ist, Nakata bleibt weiter dumm.«
    »Was ich sagen will, ist, dass Dummsein nicht Ihr Problem ist«, sagte Otsuka mit ernstem Gesicht.
    »Ach, wirklich?«
    »Ihr Problem, meine ich wenigstens, besteht darin, dass … Ihr Schatten irgendwie schwach ist, oder? Das ist mir gleich aufgefallen, als ich Sie sah. Der Schatten, den Sie auf den Boden werfen, ist nur halb so dicht wie bei normalen Menschen.«
    »Ja.«
    »Wissen Sie, ich bin so jemandem schon mal begegnet.«
    Nakata starrte Otsuka mit offenem Mund an. »Sie meinen, Sie haben schon einmal einen Menschen gesehen, der wie Nakata ist?«
    »Ja, deshalb war ich auch gar nicht so überrascht, als Sie mich angesprochen haben.«
    »Wann ist das gewesen?«
    »Vor sehr langer Zeit, als ich noch ganz jung war. Aber an das Gesicht, den Namen, den Ort und die Zeit erinnere ich

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