Kafka am Strand
– Krügerrand-Goldmünzen?«
Ich werde rot.
»Schon gut, schon gut. Es interessiert mich ja gar nicht ernstlich.«
Oshima tippt sich mit dem Radiergummi an seinem Bleistift gegen die rechte Schläfe. »Also dann, bis morgen.«
»Auf Wiedersehen«, sage ich. Anstelle der Hand hebt er den Bleistift.
Ich fahre mit der Tram zum Bahnhof zurück, wo ich in einem billigen Lokal ein Menü aus panierter Hühnchenbrust und Salat bestelle. Ich lasse mir noch eine zweite Portion Reis geben und trinke nach dem Essen eine warme Milch. Für den Fall, dass ich nachts Hunger bekomme, kaufe ich mir im Supermarkt zwei Reisklöße und eine Flasche Mineralwasser. Anschließend suche ich das Hotel auf, in dem ich übernachten werde. Ich gehe nicht schneller als nötig, aber auch nicht langsamer, sondern ganz normal wie die anderen Passanten auch, um keine überflüssige Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Das Hotel ist sehr groß, ein typisches zweitklassiges Business-Hotel. An der Rezeption trage ich Namen, Adresse und Alter ins Gästebuch ein und bezahle eine Nacht im Voraus. Ich bin ein wenig aufgeregt. Aber niemand mustert mich argwöhnisch oder zetert: »Ich sehe doch, dass du lügst. In Wirklichkeit bist du erst fünfzehn und von zu Hause abgehauen.« Alles verläuft reibungslos und sachlich.
Mit einem bedrohlich rappelnden Aufzug fahre ich in den fünften Stock. In dem länglichen, schmalen Zimmer gibt es ein liebloses Bett mit einem harten Kissen, einen winzigen Schreibtisch, einen kleinen Fernseher und verblichene Vorhänge. Das Bad hat gerade mal die Größe eines Wandschranks, weder Shampoo noch Spülung liegen bereit. Die Aussicht besteht aus der Mauer eines gegenüberliegenden Gebäudes. Andererseits sollte ich dankbar sein, dass ich ein Dach über dem Kopf und fließend warmes Wasser habe. Nachdem ich meinen Rucksack auf dem Boden abgestellt habe, setze ich mich auf den einzigen Stuhl und mache mich mit dem Zimmer vertraut.
Ich bin frei. Ich schließe die Augen und denke eine Weile über diesen Umstand nach. Aber noch bin ich nicht imstande, wirklich zu begreifen, was es bedeutet, frei zu sein. Im Augenblick begreife ich nur, dass ich völlig allein bin. Allein in einem unbekannten Land, wie ein einsamer Entdecker ohne Kompass und Karten. Ist das Freisein? Nicht einmal das weiß ich. Ich gebe es auf, darüber nachzugrübeln.
Lange sitze ich in der Badewanne. Anschließend putze ich mir über dem Waschbecken gründlich die Zähne. Eine Zeit lang lese ich noch im Bett. Als ich zu müde werde, schaue ich mir die Nachrichten im Fernsehen an. Verglichen mit meinen heutigen Erlebnissen sind sie enttäuschend und langweilig, sodass ich den Fernseher bald ausschalte und unter die Bettdecke krieche. Es ist schon nach zehn. Leicht fällt mir das Einschlafen jedoch nicht. Ein ganzer Tag in einer neuen Welt und auch noch mein fünfzehnter Geburtstag, von dem ich den größten Teil in dieser wundersamen, faszinierenden Bibliothek verbracht habe. Dazu habe ich verschiedene Menschen kennen gelernt. Sakura. Und Oshima und Frau Saeki. Zum Glück gab es keine bedrohlichen Begegnungen. Vielleicht ist das ein gutes Omen.
Ich denke an mein Zuhause in Nogata und an meinen Vater. Was er wohl empfunden hat, als er entdeckte, dass ich nicht mehr da bin? Erleichterung, meines Anblicks enthoben zu sein? Oder Verwirrung? Oder im Grunde gar nichts? Vielleicht hat er ja auch noch gar nicht gemerkt, dass ich fort bin.
Plötzlich fällt mir ein, dass ich ja sein Handy habe. Ich nehme es aus dem Rucksack, schalte es ein und wähle versuchsweise unsere Nummer in Tokyo. Sofort ertönt das Rufzeichen. Selbst über die Entfernung von siebenhundert Kilometern ist der Ton so deutlich, als würde ich vom Nebenzimmer aus anrufen. Seine unerwartete Schärfe erschreckt mich. Ich lasse es nur zweimal klingeln, dann unterbreche ich die Verbindung. Mein Herz klopft heftig und will sich gar nicht mehr beruhigen. Das Telefon funktioniert. Mein Vater hat den Vertrag für die Nummer also nicht gekündigt. Wahrscheinlich hat er noch nicht bemerkt, dass das Telefon aus seiner Schreibtischschublade verschwunden ist. Ich packe es wieder in den Rucksack, schalte die Nachttischlampe aus und schließe die Augen. Ich schlafe traumlos. Überhaupt habe ich schon lange nicht mehr geträumt.
6
»Guten Tag«, sagte der alte Mann.
Die Katze, ein betagter, großer schwarzer Kater, hob kurz den Kopf und erwiderte den Gruß leise und schwerfällig.
»Schönes Wetter heute,
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