Kafka am Strand
mich nicht mehr. Wie gesagt, wir Katzen haben für solche Dinge kein Gedächtnis.«
»Ja.«
»Aber es schien, als wäre der Schatten dieser Person zur Hälfte verloren gegangen. Er war ebenso dünn wie bei Ihnen.«
»Aha.«
»Statt verirrte Katzen zu suchen, sollten Sie sich lieber ernsthaft auf die Suche nach der anderen Hälfte Ihres Schattens machen.«
Nakata zupfte nervös an der Krempe seiner Baumwollmütze herum. »Ehrlich gesagt, hat Nakata es schon geahnt. Dass sein Schatten zu schwach ist. Andere haben nichts gemerkt, aber er weiß es.«
»Wenn das so ist«, sagte die Katze.
»Aber Nakata ist schon alt und wird sowieso bald sterben. Mutter ist schon gestorben, und Vater auch. Ob einer klug ist oder dumm, ob er schreiben kann oder nicht, ob er einen anständigen Schatten hat oder nicht, sterben tun doch alle. Dann werden sie verbrannt. Sie werden zu Asche und kommen in ein Grab am Krähenberg. Der Krähenberg ist in Setagaya. Aber wenn die Leute im Grab am Krähenberg sind, denken sie wahrscheinlich nichts mehr. Und wer nicht denkt, ist auch nicht verwirrt. Deshalb reicht es doch für Nakata, so wie es ist. Solange Nakata noch lebt, möchte er in Nakano bleiben. Nach dem Tod kann er ruhig auf den Krähenberg kommen. Das schadet nichts.«
»Wie Sie darüber denken, ist natürlich Ihre Sache«, sagte Otsuka und leckte sich wieder die Pfote. »Aber Sie sollten die Angelegenheit mal aus der Sicht des Schattens überdenken. Vielleicht fühlt er sich klein. Also, wenn ich der Schatten wäre, würde ich nicht … halbiert sein wollen.«
»Ja«, sagte Nakata. »Das stimmt. Das könnte sein. Darüber hat Nakata noch nie nachgedacht. Er geht nach Hause und überlegt in Ruhe.«
»Überlegen ist gut.«
Nachdem die beiden eine Weile geschwiegen hatten, stand Nakata ruhig auf, bürstete sich gründlich die Grashalme von der Hose und setzte seine abgetragene Mütze wieder auf. Er rückte sie mehrmals zurecht, bis die Krempe den gewohnten Winkel hatte. Dann hängte er sich den Stoffbeutel über die Schulter. »Herzlichen Dank. Ihre Meinung war für Nakata von großem Wert. Bitte bleiben Sie gesund und passen Sie auf sich auf.«
»Sie auch.«
Als Nakata fort war, legte Otsuka sich wieder ins Gras und schloss die Augen. Bis Wolken aufzogen und der Regen kam, war noch Zeit. Ohne an etwas zu denken, fiel Otsuka sogleich in einen kurzen Schlummer.
7
Um Viertel nach sieben nehme ich im Speisesaal neben dem Foyer ein Frühstück aus heißer Milch, Toast, Eiern und Speck zu mir. Das im Preis inbegriffene Hotelfrühstück genügt mir nicht. Im Nu habe ich alles verputzt und trotzdem das Gefühl, fast nichts im Magen zu haben. Instinktiv schaue ich mich um, aber es sieht nicht so aus, als könne ich noch mehr Toast bekommen. Ich seufze.
»Da kann man nichts machen«, sagt Krähe.
Erst jetzt bemerke ich, dass er mir gegenüber am Tisch sitzt.
»Du bist nicht mehr in der Position, einfach essen zu können, was dir schmeckt. Immerhin bist du von zu Hause abgehauen. Diese Tatsache solltest du dir mal in den Kopf hämmern. Bis jetzt konntest du einfach aus dem Bett hüpfen und dir den Bauch voll schlagen. Damit ist es jetzt vorbei. Du musst mit dem vorliebnehmen, was du kriegst. Bestimmt hast du schon gehört, dass der Magen seine Größe der ihm zugeführten Nahrungsmenge anpasst. Das kannst du jetzt mal im Selbstversuch testen. Allerdings wird es ein Weilchen dauern. Kannst du das ertragen?«
»Kann ich.«
»Also dann«, sagt Krähe. »Immerhin bist du der stärkste Fünfzehnjährige der Welt.«
Ich nicke.
»Dann hör auf, die ganze Zeit auf deinen leeren Teller zu glotzen. Schreite zur nächsten Tat.«
Gehorsam stehe ich auf und schreite zur nächsten Tat.
Die besteht darin, dass ich an der Rezeption die Verhandlungen über meinen Zimmerpreis aufnehme. Ich sei Oberschüler aus Tokyo und wolle hier meine Abschlussarbeit vorbereiten, entsprechend dem System in der Oberstufe meiner Schule. Dafür müsse ich in der Komura-Gedächtnisbibliothek Material sammeln. Das Material, das ich zu untersuchen hätte, sei aber wesentlich umfangreicher, als ich vermutet hätte, sodass ich auf jeden Fall eine Woche in Takamatsu bleiben müsse. Mein Budget sei jedoch begrenzt. Ob ich daher die besondere YMCA-Ermäßigung eventuell auch für mehr als nur die drei vorgesehenen Tage erhalten könne? Ich würde jeden Tag im Voraus bezahlen, um keine Umstände zu machen.
Mit der Miene eines wohlerzogenen Jungen, der ratlos vor einem
Weitere Kostenlose Bücher