Kafka am Strand
Tamura?«
»Ja.«
»Seltsamer Name.«
»Aber so heiße ich«, beharre ich.
»Bestimmt hast du schon einiges von Franz Kafka gelesen, oder?«
Ich nicke. » Das Schloss, Das Urteil und Die Verwandlung und dann die Geschichte mit der komischen Exekutionsmaschine.«
» In der Strafkolonie « , sagt Oshima. »Die gefällt mir am besten. Auf der Welt gibt es eine Menge Schriftsteller, aber keiner schreibt Geschichten wie Kafka.«
»Von den kürzeren Erzählungen gefällt mir die auch am besten.«
»Wirklich?«
Ich nicke.
»Warum denn?«
Darüber muss ich erst eine ganze Weile nachdenken.
»Statt zu versuchen, unsere Lebenssituation zu erklären, erklärt Kafka bloß die mechanische Funktionsweise dieser komplizierten Maschine. Also …« Ich denke wieder nach. »Auf diese Weise kann er unsere Situation präziser erklären als jeder andere. Er schildert nicht die Situation, sondern die Einzelteile einer Maschine.«
»Aha«, sagt Oshima. Dann legt er mir die Hand auf die Schulter. In dieser Geste spüre ich etwas von spontaner Sympathie.
»Hm, Kafka wäre mit deiner Deutung sicher einverstanden.«
Er nimmt das Telefon und geht ins Haus zurück. Ich bleibe allein auf der Veranda sitzen, esse mein Mittagessen zu Ende, trinke Mineralwasser und beobachte die Vögel im Garten. Wahrscheinlich sind es dieselben, die ich schon gestern gesehen habe. Der Himmel ist von einer leichten Wolkenschicht überzogen, sodass keine Bläue zu sehen ist.
Meine Deutung von Kafkas Erzählung hat Oshima offenbar überzeugt. Mehr oder weniger. Aber was ich wirklich sagen wollte, konnte ich nicht vermitteln. Was ich über Kafkas Erzählung gesagt habe, war keine Verallgemeinerung, sondern eine konkrete Äußerung zu einer sehr konkreten Sache. In meiner Realität existiert diese komplizierte Strafmaschine mit dem unfassbaren Ziel tatsächlich. Sie ist keine Metapher oder Allegorie. Aber wie könnte ich das Oshima oder überhaupt jemandem erklären und verständlich machen?
Ich gehe in den Lesesaal zurück, setze mich aufs Sofa und tauche wieder in die Welt der Märchen aus 1001 Nacht ein. Wie beim Fade-out auf der Leinwand versinkt die Welt um mich herum allmählich, und ich betrete ganz allein das Reich zwischen den Seiten. Dieses Gefühl liebe ich mehr als jedes andere.
Als ich um fünf die Bibliothek verlasse, liest Oshima hinter der Theke noch im selben Buch. Noch immer hat sein Hemd keine einzige Falte. Wie üblich hängen ihm ein paar Haarsträhnen in die Stirn. Die Zeiger der elektrischen Wanduhr hinter ihm gleiten geräuschlos vorwärts. In Oshimas Nähe spielt sich alles leise und sauber ab. Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass er schwitzt oder Schluckauf bekommt. Er blickt auf und reicht mir meinen Rucksack. Beim Heben verzieht er das Gesicht, als wäre er schwer.
»Kommst du mit der Bahn aus der Stadt hierher?«
Ich nicke.
»Wenn du vorhast, jeden Tag zu kommen, kannst du das hier bestimmt gut gebrauchen.« Er überreicht mir ein Blatt im halben Schreibpapierformat, eine Kopie des Fahrplans für die Bahn, die zwischen Bahnhof und Komura-Gedächtnisbibliothek verkehrt.
»Danke.« Ich nehme das Blatt entgegen.
»Hör mal, Kafka Tamura. Ich weiß nicht, woher du kommst und was du machst, aber du kannst nicht für alle Ewigkeit im Hotel wohnen«, setzt Oshima vorsichtig an, während er die Spitze des Bleistifts mit einem Finger seiner linken Hand prüft. Die Mine ist über jeden Zweifel erhaben und vollkommen spitz.
Ich schweige.
»Ich will mich nicht in deine Angelegenheit mischen. Nur – ein Kind in deinem Alter, allein in einer fremden Umgebung, das ist nicht ganz unproblematisch.«
Ich nicke.
»Hast du weitere Pläne? Oder hast du vor, für immer hier zu bleiben?«
»Ich weiß noch nicht, aber eine Weile will ich schon noch hier bleiben. Ich wüsste auch nicht, wohin ich sonst gehen sollte«, gebe ich zu.
Ich spüre, dass ich Oshima gegenüber bis zu einem gewissen Grad ehrlich sein kann. Zumindest scheint er meinen Standpunkt zu respektieren. Er predigt nicht oder drängt mir eine vernünftige Meinung auf. Dennoch ziehe ich es vor, niemandem mehr zu erzählen als nötig. Ohnehin bin ich nicht gewöhnt, anderen etwas anzuvertrauen oder meine Gefühle zu erklären.
»Fürs Erste kommst du allein zurecht, oder?«
Ich nicke kurz.
»Viel Glück«, sagt er.
Von Kleinigkeiten abgesehen läuft mein Leben sieben Tage lang annähernd gleich ab. (Nur am Montag, als die Komura-Bibliothek geschlossen
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