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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hat, besuche ich stattdessen die große Stadtbücherei.) Um halb sieben weckt mich der Radiowecker, und ich nehme im Speisesaal mein eher symbolisches Frühstück ein. Wenn die junge Frau mit dem kastanienbraunen Haar Frühdienst hat, hebe ich die Hand zu einem Gruß, den sie nickend und lächelnd erwidert. Sie scheint mich zu mögen. Ich mag sie auch. Möglicherweise ist sie ja meine ältere Schwester.
    Nach ein paar einfachen Dehnübungen auf meinem Zimmer fahre ich, sobald es Zeit ist, ins Sportstudio, um mein Zirkeltraining zu absolvieren. Immer die gleiche Anzahl der Übungen, immer mit der gleichen Belastung. Nie weniger und nie mehr. Anschließend dusche ich, wobei ich darauf achte, mich bis in den letzten Winkel zu säubern. Ich steige auf die Waage und vergewissere mich, dass sich nichts verändert hat. Bevor es Mittag wird, fahre ich mit der Straßenbahn zur Komura-Gedächtnisbibliothek. Wenn ich meinen Rucksack abgebe und wieder abhole, unterhalte ich mich kurz mit Oshima. Mein Mittagessen verzehre ich auf der Veranda, danach lese ich wieder. (Als ich die Märchen aus 1001 Nacht zu Ende gelesen habe, nehme ich mir Natsume Sosekis gesammelte Werke vor, denn davon habe ich viele noch nicht gelesen.) Um fünf verlasse ich die Bibliothek. So verbringe ich den Großteil meiner Tage zwischen Sportstudio und Bibliothek. Niemand nimmt auch nur die geringste Notiz von mir, wahrscheinlich weil man Kinder, die die Schule schwänzen, an solchen Orten in der Regel nicht vermutet. Zu Abend esse ich in einem Lokal am Bahnhof. Ich versuche, möglichst viel Gemüse zu mir zu nehmen. Manchmal kaufe ich mir in einem Obst- und Gemüseladen etwas und schäle es mit dem Messer aus dem Arbeitszimmer meines Vaters. Gurken und Sellerie wasche ich am Waschbecken in meinem Zimmer und knabbere sie mit Mayonnaise. Aus dem Supermarkt hole ich mir Milch und Cornflakes.
    Wenn ich abends im Hotel bin, setze ich mich an den Schreibtisch und führe Tagebuch, höre Radio mit meinem Discman, lese noch ein bisschen und lege mich um elf schlafen. Hin und wieder masturbiere ich auch vor dem Einschlafen und denke dabei an das Mädchen an der Rezeption, während ich die Möglichkeit, dass sie meine ältere Schwester ist, vorübergehend aus meinem Kopf verbanne. Ich sehe kaum fern und lese auch kaum Zeitung.
    Es ist der Abend des achten Tages, als mein geregeltes, konzentrisches, bescheidenes Leben zerbricht (was natürlich früher oder später kommen musste).

8
    Bericht des amerikanischen Informationsministeriums (MIS)
    Datum: 12. Mai 1946
    Titel: RICEBOWL HILL INCIDENT, 1944:
    Report Archivnummer: PTYX-722-8936745-422I6-WWN
     
    Das etwa dreistündige Gespräch mit Professor Tsukayama Shigenori (52), Abteilung Psychiatrie der medizinischen Fakultät der Kaiserlichen Universität Tokyo, fand unter der Leitung des Obersten Kommandeurs der Alliierten im Hauptquartier statt. Das das Protokoll betreffende Zusatzmaterial hat die Nummern PTYX-722-SQ-267 bis 291. (Anmerkung: Die Dokumente Nr. 271 sowie 278 sind allerdings verlorengegangen.)
     
    Bemerkungen von Leutnant Robert O’Connell:
     
    »Professor Tsukayama verfügt über eine außerordentlich souveräne Haltung und ist einer der führenden japanischen Wissenschaftler und Experten mit zahlreichen ausgezeichneten Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Psychiatrie. Anders als viele seiner Landsleute drückt er sich niemals vage aus und trennt scharf zwischen Fakten und Vermutungen. Aufgrund eines Aufenthaltes als Austauschprofessor an der Universität Stanford vor dem Krieg spricht er recht fließend Englisch. Offenbar genießt er das Vertrauen und die Sympathie vieler Menschen.«
    Mitte November 1944 erhielten wir von der Armee den dringenden Befehl, die betreffenden Kinder schnellstmöglich zu untersuchen. Eine solche Aufforderung seitens der Streitkräfte war durchaus ungewöhnlich. Wie Sie wissen, verfügte das Militär innerhalb seiner eigenen Strukturen über eine recht große medizinische Abteilung und regelte fast alle derartigen Angelegenheiten intern, da man naturgemäß um absolute Geheimhaltung bemüht war. Außer in Fällen, in denen die speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten von Fachwissenschaftlern und -ärzten erforderlich waren, wurden keine Zivilisten hinzugezogen.
    Als man mit dieser Geschichte auf uns zukam, mutmaßten wir also selbstverständlich gleich einen »Spezialfall«. Offen gesagt war ich nicht gerade erbaut davon, im Auftrag des Militärs zu arbeiten, denn meist ging

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