Kafka am Strand
es den Herren nicht um wissenschaftliche Fakten, sondern um Schlussfolgerungen, die mit ihrer Gesinnung übereinstimmten, oder um einen rein praktischen Nutzen. Ein wissenschaftliches Vorgehen stand in der Regel nicht zu erwarten. Während des Krieges war es indes nicht möglich, dem Militär die Zusammenarbeit zu verweigern. Wir konnten nur schweigend gehorchen.
Zur Zeit der amerikanischen Luftangriffe schafften wir es gerade so, unsere Forschungen am Institut auf kleinster Flamme fortzusetzen. Die meisten Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter waren eingezogen, und die Universität war so gut wie leer. Für die Studenten am Institut für Psychiatrie gab es keine Rückstellung von der Front.
Auf den besagten Befehl hin unterbrachen wir unsere laufenden Forschungen bis auf weiteres und fuhren überstürzt mit der Eisenbahn nach ** in der Präfektur Yamanashi. Wir waren zu dritt. Ich, ein weiterer Kollege vom Institut für Psychiatrie und ein Hirnchirurg, der schon seit längerem an unseren Projekten beteiligt war.
Als Erstes erhielten wir die strenge Anweisung, nichts nach Außen dringen zu lassen, da es sich um militärische Geheiminformationen handele. Sodann schilderte man uns den Vorfall, der sich Anfang des Monats zugetragen hatte. Sechzehn Kinder waren bei einem Ausflug in die Berge ohnmächtig geworden, und fünfzehn von ihnen hatten danach problemlos das Bewusstsein zurückerlangt, ohne dass sie sich jedoch erinnern konnten, was geschehen war. Nur ein Junge war nicht wieder zu sich gekommen und lag im Militärkrankenhaus in Tokyo.
Der Militärarzt, der die Kinder unmittelbar nach dem Vorfall untersucht und seither unter Beobachtung hatte, informierte uns ausführlich über den Verlauf aus medizinischer Sicht. Er hieß Toyama und war Major. Nun gibt es unter den Militärärzten – eher als bei Zivilisten – nicht wenige, die wie Beamte dazu neigen, in erster Linie an ihre eigene Karriere zu denken, doch glücklicherweise gehörte Dr. Toyama nicht zu diesem Typus. Er war ein vernünftiger Mann und überdies ein ausgezeichneter Arzt. Uns Außenstehenden gegenüber verhielt er sich weder arrogant noch feindselig. Er klärte uns objektiv und vorbehaltlos über die notwendigen Fakten auf und gewährte uns Einblick in alle Krankenakten. Offensichtlich war er ausschließlich an einer echten Klärung des Vorfalls interessiert. Er war uns äußerst sympathisch.
Die wichtigste Erkenntnis, die wir aus dem Material des Militärarztes gewannen, war der Umstand, dass bei den Kindern aus medizinischer Sicht keine Nachwirkungen zurückgeblieben waren. Bei keiner der verschiedenen Untersuchungen, die direkt nach dem Vorfall bis zum aktuellen Zeitpunkt stattgefunden hatten, wurden – innerliche oder äußerliche – Anomalien festgestellt. Der Zustand der Kinder war der gleiche wie vor dem Unfall. An sich führten sie ein sehr gesundes Leben. Ausführliche Untersuchungen ergaben, dass einige von ihnen Parasiten hatten, was jedoch nicht besonders erwähnenswert war. Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Schmerzen, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Mattigkeit, Durchfall oder Alpträume waren nicht aufgetreten.
Aus dem Gedächtnis der Kinder war jegliche Erinnerung an ihre zweistündige Bewusstlosigkeit verschwunden. Dies war bei ihnen allen so. Sie wussten nicht einmal mehr, dass sie umgefallen waren. Anstatt als Gedächtnisverlust würde ich dieses Phänomen eher als eine Art Gedächtnisausfall bezeichnen. Es handelt sich dabei nicht um einen wissenschaftlichen Begriff, und ich verwende ihn auch nur mit Vorbehalt. Zwischen einem »Verlust« und einem »Ausfall« besteht ein großer Unterschied. Ich will es mit einem einfachen Beispiel erklären. Stellen Sie sich einen Güterzug vor. Aus einem Waggon fällt die Fracht heraus. Dies würde dem »Ausfall« entsprechen. Wäre jedoch der ganze Waggon mitsamt seinem Inhalt verloren gegangen, läge ein »Verlust« vor.
Außerdem erörterten wir die Möglichkeit, dass die Kinder ein giftiges Gas eingeatmet haben könnten. Militärarzt Dr. Toyama unterrichtete uns davon, dass auch er diese Möglichkeit natürlich in Betracht gezogen und eigens Militärexperten hinzugezogen habe. Aber inzwischen betrachte man diese Möglichkeit – realistisch gesehen – als wenig wahrscheinlich. Diese Untersuchungen fielen jedoch unter das Militärgeheimnis, und es dürfe nichts davon nach außen dringen … Seiner Aussage nach führte die Armee tatsächlich geheime Forschungen zur
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